„Faster..Harder.. Corona“ – oder wie mich mein Home-Festival an die Belastungsgrenze brachte

Nach der 3. Woche der Corona-Quarantäne war es soweit. JETZT wäre es gewesen.. DAS Konzert.. DAS Festival.. die Hemmschwelle brach, Tränchen flossen, virtuelle Fotoalben wurden gewälzt, doch nichts brachte Abhilfe gegen dieses Gefühl: der Festivalblues, der einen normalerweise erst nach erfolgreich überlebter Veranstaltung zurück im Alltag überfällt, kam diesmal anstatt der Veranstaltung und vor dem Sommer. Was also tun? Nachdem das Gehirn ja mittlerweile durch mangelnde Gesellschaft und eingeschränktes Tätigkeitsfeld matschig war, fand ich die Anleitung zum „Home-Festival“ auf sharpshooter-pics. Der geistige Weg von „höhö, putzig ihr Kleinen“ zu „Alter, ich brauch das JETZT!!“ dauerte genau 2:27 Stunden. Ich würde mein eigenes Festival machen. Stolz war ich und voller Tatendrang.

Eine Woche später: Warum ich jetzt weiß, dass jedes herkömmliche Festival eigentlich Pillepalle ist, möchte ich Euch erzählen. „Faster.. Harder..Corona“ – ein Erfahrungsbericht.

Es war wohl das erste Mal in der Geschichte meiner Arbeitskarriere, dass mein Chef mir freiwillig sofort meinen Urlaubsantrag freigab. Spontan Freitag frei, denn ich wollte ja zum Festival! Wie gut das klang.. Ich war natürlich schlau genug, ihm nicht zu sagen, was ich vorhatte. Aber meine Freunde wurden alle eingeweiht. Hielt ich meine Idee doch noch für phänomenal. Genug Schnaps und ein paar Vorräte hatte ich ja noch, Equipment stand eh im Keller, läuft. So schnürte ich meine fettesten Boots, malte mir einen Kajalstrich, bei dem Robert Smith vor Neid erblassen würde und packte im Keller meinen Bollerwagen. Als ich die Wohnung erreichte hatte, hatte ich mir das erste Mal den Rücken verhoben und war auf der Treppe umgeknickt. Gebe zu, das Gewicht des Wagens samt Ladung hatte ich irgendwie unterschätzt. Egal – Anreiseeeee!! Um das ganze realistisch zu gestalten, stehe ich erstmal fast 2 Stunden vor der Wohnungstür bevor ich reinkomme. Der Schlüssel war natürlich ganz unten, unter allen Sachen verschollen. Der Rücken wird nicht besser. Dann endlich drin und auf dem „Camp-Field“.. Schlafplatz aufbauen. In Gedanken proste ich meinen Freunden zu während ich mir das erste Getränk gönne. Isomatte auf den Boden, Schlafsack und erstmal ausstrecken, des Rückens wegen. Ich ersticke fast an einer Staubwolke, die mir aus der schmalen Ritze unter meinem Bett entgegen kommt. Sämtliche Wollmäuse haben spontan Marschbefehl bekommen. Naja, so’n Zeltplatz ist auch nicht sauber.. noch ein Getränk um die Kehle wieder zu befeuchten und dann ab in den „Festival-Supermarkt“. Küchenschrank einer Junggesellenbude. Ravioli, restlicher Toast, etwas mit einem blauen flauschigen.. lassen wir das. Für essbar befundenes wird zum Schlafplatz gebracht. Überleben gesichert – jetzt kann man was „Richtiges“ trinken.

Campingplatzmucke in der Dauerschleife gehört natürlich auch dazu!

Die kleine Stage wird eröffnet,  DJ ‚Random auf YouTube‘ sorgt für die erste Beschallung. Whigfield mit „Saturday Night“. Gut, das hätte ich mir jetzt nicht ausgesucht aber ach ja.. die guten alten 90er.. einige Zeit und eine dreiviertel Flasche Schnaps später bin ich gut dabei, tanze bereits und habe kein Hemd mehr an. So muss das sein. Nachdem wir jetzt musikalisch bei Italo-Disco sind, wechsle ich das Getränk. Wusste gar nicht, dass ich Lambrusco im Haus hab. Muss von der letzten Resteparty über sein. Mal gucken was noch da ist. Cocktails zu den Bee Gees, „Night Fever!“ – raus aus der Hose und rauf aufs Sofa. Diese Performance braucht eine Bühne! Gekonnt werfe ich mich in Pose und singe enthusiastisch Richtung Fenster. Groß starren mehrere Nachbarn durch selbiges auf der Straßenseite zurück. Naja, wollt eh grad Pause machen. Erstmal n Bierchen zischen. Neue Musik muss her. Was nun? Bier… Metal! Wacken! Hell yeah! Den Regler hoch und die Haare geschüttelt, lauter, härter, stage diven! Rauf auf den Tisch und – tja, schon scheiße wenn keiner unten steht, um dich zu fangen. Das geprellte Handgelenk passt gut zum dicken Knöchel und dem verhobenen Rücken. Doch das angenehm flauschige Gefühl des Suffs lässt alles verblassen neben James Hetfields Stimme und meiner die im Duett „The Memory Remains“ brüllen. Es klingelt. Noch im Flow stolpere ich an die Tür – Polizei. Ruhestörung. Man mache sich Sorgen um meine geistige Gesundheit.. anonym natürlich. Mit der Auflage mich ab jetzt ruhig zu verhalten, es sei ja schon nach 22 Uhr – wann zur Hölle ist das passiert?! – verziehe ich mich schmollend. Erstmal auf den Balkon.. frische Luft soll ja gut tun. Oh! Wer hat denn hier den Sekt kaltgestellt? Nachdem ich den Grill angefeuert habe, stelle ich fest, dass ich exakt NICHTS zum Grillen habe und funktioniere ihn mit den Resten der Pflanzen vom letzten Jahr zum Lagerfeuer um. Ach ja, vor einem Jahr saß ich auch an einem.. hick.. und diese hübsche Rothaarige.. hick.. gesungen haben wir. Zur Gitarre. Ich besitze nur eine Ukulele. Zur Begleitung der selbigen singe ich jetzt all meine Leidenschaft heraus „Aaaloahejaheee alohahejahee aloahejaheee..“ – die Katzen auf dem Hof miauen kläglich – als mich unverhofft ein Schwall Wasser trifft. „Mach dit Feuer aus.. aba sofort wa?! Ick gloob, ick kiek nich richtig! Und halt bloß die Schnauze!!“ Frau Meisenberger, 84, geboren in Berlin-Wedding von oben hat offenbar den wahren Geist von Festival nicht verstanden. Der Sekt schlägt mir auf den Magen und ich krieche ins Bad.. die Därme grummeln, ich bin überrascht, dass man Bierschiss auch schon vor dem Schlafengehen bekommen kann. Nach 10 Minuten ‚Montezumas Rache‘ will ich die Lokusrolle wechseln und – meine Kinnlade fällt mit der leeren Papprolle zu Boden. Der letzten, wie mir der letzte funktionierende Teil meines Gehirns zuflüstert, bevor es mich in eine gnädige Ohnmacht entlässt.

Scooter im Livestream – Hell Yeah!

Langsam komme ich zu mir von einem ebenso nervigen Geräusch, wie von der akuten Kälte, die mich klappern lässt. „Waaaas kann dir schon gescheh‘n, du weißt ich liiiiiebe das Leeeeben“ trällert es irgendwo. Ein Zitat von Johnny Depp geht mir durch den Kopf: „Welcher Geisteskranke würde denn in dieser Situation dieses Lied spielen?“ Offenbar hatte ich in meinem Eifer vergessen, den Radiowecker auszuschalten, der mich jeden Morgen weckt. Ich werde mir meiner kläglichen Situation bewusst und hieve meinen schmerzenden Körper in die Dusche. Ich drehe an den Knöpfen und es passiert – nichts. „Tja, Festival“ flüstert eine Stimme in meinem Hinterkopf und ich beginne hysterisch zu kichern. Warum zur Hölle kommt kein Wasser? Ich hülle mich in meinen Bademantel, torkele vor die Wohnungstür und falle ein weiteres Mal aufs Mett. 2 6er-Träger Bier stehen direkt vor meiner Wohnungstür, versehen mit einem Zettel „Viel Spaß beim Festival, Tom & Elli“. Corona Bier. Sehr lustig. Wer solche Freunde und einen Getränkelieferservice hat, braucht keine Feinde mehr. Aber naja, so ein Konter-Bier ist jetzt vielleicht ganz hilfreich. Ich köpfe die erste Flasche und schwanke zum Infobrett. „Samstag zwischen 8 und 15 Uhr wird wegen Wartungsarbeiten das Wasser abgestellt“. WTF?? Seit wann hängt das denn da? Die Haustür geht überraschend auf und der Paketbote starrt mich erschüttert an, macht nur „HAH!“, lässt das Paket fallen und rennt. Das gleiche wiederholt sich, als ich auf dem Rückweg bei Frau Müller aus dem 2. Stock klingle, um mir Klopapier zu borgen. Was haben die denn alle? Noch nie aufm Festival gewesen, was? Nach der 2. und dritten Flasche Corona bin ich schon wieder gut dabei.

Stimmungsvoll mit Lagerfeuer.. ähm ja.

Das Leben ist schön. Beim Festival wäre ich jetzt wohl bei nem Workshop oder so. Aber auf leeren Magen geht nix. Ich entfache also meinen Gaskocher und setze stilecht ne Dose Ravioli auf. Hätt ich vielleicht nicht unbedingt auf dem Hochflor-Teppich machen sollen. Plötzlich riecht es komisch und der Teppich beginnt zu fackeln. Scheiße, kein Wasser! Ich stürme also los, um eine Decke zu holen, rutsche auf meiner Luftmatratze aus und maule mich ein weiteres Mal. Zum Glück gelingt es mir, die Flammen zu ersticken und ich muss mir auf den Schreck erstmal nen Kurzen eingießen. Vielleicht auch noch 1-2.. ok 5! Das Telefon klingelt. Eine Stimme, die ich als Freundin Nadine identifiziere schreit „HELLGAAAA!“ und wirft gackernd den Hörer auf. Alle irre. Aber egal, Zeit dass die Main-Stage eröffnet! Wieder klingelt das Telefon, ich schlurfe wieder hin, wieder tönt es „HELLLGAAAA!“. Maaaaan.. langsam bekomme ich ein Gefühl für die Leute, die das nervig finden. Nach einem Frühstück aus kalten Ravioli, Crackern mit Senf und Eistee mit Rum ist es Zeit, für eine neue Richtung: Techno!

Wieder hilft DJ YouTube, die Boxen wummern und ich erinnere mich aus irgendeinem Grund an eine Schachtel mit fragwürdigem Inhalt, die Kumpel Chris neulich mal mit der Aussage „für schlechte Zeiten“ hiergelassen hatte. Was für schlechte Zeiten gut ist, kann für gute ja nur grandios sein! Da meine Hemmschwelle nach dem letzten Rum-Drink beinahe nicht mehr existent ist, schlucke ich fröhlich eine von den kleinen bunten Tabletten und tanze auf meinem eigenen Goa-Festival.. ein gutes Gefühl, bis der Wohnzimmerspiegel mich direkt anspricht: „Junge, du siehst aber echt scheiße aus!“ Hatte er das grad wirklich GESAGT? Irgendwas stimmte nicht. „Er hat recht“ sagt die rankende Zimmerpflanze, die plötzlich ihre Schlingen nach mir ausstreckt. Ich muss hier weg! Vorbei an der wabernden Wand in den Flur. Doch die Tür ging nur nach unten auf! Horror! Ich krieche auf allen vieren zu meinem halb-aufgebauten Zelt in meinem Schlafzimmer, um Schutz zu suchen. Den schwarzhaarigen Kopf ohne Körper auf meinem Kissen identifiziere ich zum Glück noch als Nachbarskatze, die gelegentlich durchs Fenster reinkommt, bevor ich mich mit einem Handtuch zudecke und hoffe, dass das alles bald vorbei ist.

Ich war am Sonntag nicht mehr auf dem Home-Festival. Ich habe sämtliche Vorräte an Sprudelwasser und Aspirin verbraucht, eine ärztliche Notfall-Sprechstunde besucht und versucht, meine verwüstete Wohnung mit einer funktionierenden und einer eingegipsten Hand aufzuräumen. Danach habe ich eine eindringliche Email an sharpshooter-pics verfasst.

Wenn dieser ganze Corona-Wahnsinn vorbei ist, fahre ich lieber wieder auf ein normales Festival. Da ist alles so schön ruhig und friedlich.

 

 

 

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