Review: DIE KREATUR – Panoptikum
Anfang des Jahres 2020 gab es nicht nur Horrornachrichten bezüglich der sich ausbreitenden Corona-Pandemie. Gleichzeitig wurde ein neues düsteres Projekt namens “DIE KREATUR” ins Leben gerufen, dessen Bestandteile aber noch geheim blieben. Es wurde viel gerätselt und teils abenteuerliche Vermutungen ausgesprochen, bis dann im Februar klar war: Es handelt sich um ein Gemeinschaftsprojekt von Chris Harms (LORD OF THE LOST) und Dero Goi (OOMPH!). Das weltweite Signing mit Napalm Records machte den Coup perfekt und nun steht das Debutalbum “Panoptikum” in den Startlöchern.
Kongenialität oder Nullsummenspiel?
Kann ein Projekt überhaupt scheitern, wenn zwei so begnadete Sänger und Songschreiber wie Chris und Dero die Zügel in der Hand halten? Sicherlich nicht. Doch wieviel Innovation kann man erwarten, wenn zwei altgediente Szenegrößen aufeinandertreffen? Ergibt das eher Synergien oder reibt man sich aneinander auf oder neutralisiert sich gar? Solche Fragen mag sich manch ein Fan gestellt haben und auch die typische Frage: Braucht es ein solches Projekt überhaupt? Letzteres entbehrt nicht einer gewissen Hybris, schließlich entscheiden allein die Künstler, in welche Bahnen sie ihre kreative Kraft leiten wollen und welche Ausdrucksformen sie wählen. Wenn Dero Goi und Chris Harms finden, es sei an der Zeit, solch einen neuen Weg einzuschlagen, dann ist das ihr gutes Recht. Nun denn, aber hören wir einmal rein, wie “fanfreundlich” das Werk letztendlich geworden ist und ob bei aller Selbstverwirklichung auch noch ein Hörvergnügen mit herausspringt.
Die Aushängeschilder
Die ersten beiden Songs “Die Kreatur” und “Kälter als der Tod” wurden schon vorab als Singles ausgekoppelt und dienen somit als Orientierungshilfe, was uns insgesamt erwartet. Der Opener besticht durch hart rockigen Sound, gemischt mit einigen Synthies und folgt weitgehend einem altbekannten NDH-Schema. Inhaltlich wird die Natur des Menschen in Beziehung dazu gesetzt, wie er andere behandelt, als Antagonist fungiert hier die namensgebende “Kreatur”. Das Urteil fällt dann auch dementsprechend negativ aus: “Der Mensch ist böse von Natur”. Das Leid der Kreatur und ihr innerer Schmerz in den dunklen Stunden der Nacht wird mit sanften, emotionalen Passagen dargestellt, der Mensch hingegen kommt im harten, rohen Soundgewand daher und quält die Kreatur. Klargesang wechselt sich mit verzerrtem solchen ab, eine schöne Ambivalenz!
Für “Kälter als der Tod” wurde uns ein Video von Napalm beschert, das die beiden Sänger in stilvollem Gewand mit Hut, Mantel und Stock präsentiert und als besonderes Bonbon mit organgeroten Kontaktlinsen. Die Atmosphäre ist geprägt von Kerzenhaltern und schaurig-schöner Gothic-Manier und inhaltlich geht es um das typische Thema Vampirismus und die schwarze Romantik dahinter. Nicht nur am Anfang bekommen wir zudem tolle Gitarrenriffs zu hören, die entfernt an EMIGRATE erinnern.
Zwei Köpfe – aber weit mehr Facetten
An dritter Stelle folgt ein Highlight in Form des Liedes “Unzertrennlich”, der einen schönen Strophen-Split aufweist. Chris Harms sticht mit seiner Stimme hier deutlicher hervor, als bei den ersten beiden Songs, die man getrost als Dero-lastig bezeichnen könnte. Die coolen Synthrock-Passagen werden durch einen fast schon EBM-artigen Beat begleitet und diese tolle Mischung übt eine gewisse Faszination aus, was sicherlich auch dem ungewöhnlichen Sechs-Achtel-Takt geschuldet ist. Hier zeigt sich also durchaus eine gewisse Innovationsfreudigkeit. Keine Sorge, “Durch die Nacht” hat weder etwas mit Helene Fischer zu tun und auch nicht mit dem Blutengel-Trinkspiel, die diese Phrase inflationär gebraucht haben. Der Gesang ist gerade am Anfang ungewöhnlich hoch und man will dem Song fast schon den Balladen-Stempel aufdrücken, er lässt auch eine gewisse Romantik und Melancholie durchscheinen.
Wem das dann doch etwas zu sanft war, der kommt bei dem Kracher “Zwei-100 %” wieder auf seine Kosten, denn hier wird die NDH-Keule ausgepackt und kräftig ausgeteilt. Auch hier wieder kompromisslose Synthies mit im Boot, EBM meets Eisbrecher, könnte man resümieren. Die Bridge überrascht sehr und zerrt einen mit Keys und Chorälen auf den Boden der Tatsachen zurück, bevor wieder der Rhythmuswechsel zu schneller NDH erfolgt. Solch ein Wechselspiel unterscheidet DIE KREATUR von der etwas monotonen Gradlinigkeit der Genrekollegen.
Und schon wieder eine Überraschung: Es wird märchenhaft und etwas gruselig! “Schlafes Braut” erzählt eine alte Geschichte von den mysteriösen Todesumständen eines jungen Mädchens, das man unter einem Baum auffand und von dem man sich erzählte, es hätte schon immer einen Hang zur Düsternis gehabt. Der Sound erinnert an Seemannslieder, Kosakenchöre und Drehorgel bzw. Schifferklavier, “Umtata”-Klang trifft also auf eine melancholisch-romantische Erzählung. Bemerkenswert! Dass es danach wieder eine abrupte Kehrtwendung zu “Auf die Fresse” gibt, überrascht mittlerweile niemanden mehr. DIE KREATUR ist Wahnsinn und Chaos und verhöhnt jede Ordnung und gebärdet sich wild und unberechenbar. “Untergang” ist schnell und hart und wartet mit einem in Agonie verzerrten Refrain auf. Man wird in einen Strudel dieser wütenden, rohen Gefühle gerissen und erlebt Sehnsucht und Verzehrung nach Dingen, die man nicht haben kann, während man headbangt. Irgendwo im Hintergrund erklingt so etwas wie ein Theremin und zerrt zusätzlich an den Nerven. Ein Portrait der inneren Abgründe, in die sich eine menschliche Seele bisweilen begeben muss.
Song Nummer 8 markiert einen weiteren Höhepunkt im Panoptikum: “MenschMaschine” mag sich auf den ersten Blick zwar thematisch in entsprechende NDH-Äquivalente von HELDMASCHINE, EISBRECHER und Konsorten einreihen, aber hier steckt doch mehr dahinter! Schon während des Intros bekommt man tolle, metallisch anmutende Beats zu hören, die Synthies und der von Dero und Chris gleichzeitig gesungene Refrain erzeugen einen großartigen Sog und Druck nach vorne und der stampfende Sound reißt einen gut mit. Zudem handelt es sich um einen Song mit Ohrwurm-Charakter. Der Song beschreibt die Entwicklung der Menschheit von der Industrialisierung zur Digitalisierung und somit den Hang des Menschen, sich von Maschinen immer abhängiger zu machen und viellecht sogar ansatzweise mit ihnen zu verschmelzen, wobei oft genug Emotionen udn Werte auf der Strecke bleiben. Sogar das Outro ist mit aufwendigen Gitarrenriffs inszeniert und so stimmt an diesem Song einfach alles.
Ein Abstecher in die Psychologie und ihre dunklen Blüten
“Was mir am wichtigsten ist” – der Name ist hier tatsächlich Programm, wie Dero bestätigt. Es sei eine Art Credo der KREATUR, zu vermitteln, dass es viele Abgründe und Depressionen gibt, aber immer auch ein Ausweg gefunden werden kann. Das Lied handelt von Süchten und dem langsamen Abrutschen in die Abhängigkeit, auch selbstverletzendes Verhalten wird thematisiert und die fatalen Folgen der Abschaltung des Selbsterhaltungstriebes. Der Folgesong “Benutz mich” schlägt in eine ähnliche Kerbe, hier geht es weniger um die Abhängigkeit von Substanzen als von anderen Menschen. Unzählige Leute können ein Lied davon singen, was es bedeutet in einer toxischen Beziehung festzustecken und sich in einem ungesunden Ungleichgewicht wiederzufinden, was bis zur Selbstaufopferung führen kann. Was im BDSM in spielhafter Weise vollkommen legitim ist, entfaltet auf der emotionalen Seite eine zerstörerische Wucht, vor der nur gewarnt werden kann.
Gegen Ende wird es dann gänzlich ungewöhnlich, Dero nennt “Glück Auf” sogar einen “Reggae-Song in sehr düsterem Gewand”. Das von Akkordeon begleitete Stück kommt soundtechnisch fast gänzlich ohne Härte aus, aber textlich geht es durchaus zur Sache. Es geht um die tiefe Grube der Depression, in der sich mach einer wiederfindet und den mühsamen Weg wieder nach oben. “Es war uns sehr wichtig, dass wir bei aller Düsternis in dieser Welt, die sicherlich vorhanden ist, aber auch aufzeigen, dass es Licht und Hoffnung und ein Bergauf gibt”, so Dero.
Der finale Song “Gott verdammt” behandelt das essentielle Dilemma des Menschen im Kampf mit seinem eigenen freien Willen. Sind wir “Gott, verdammt!” oder doch eher “gottverdammt”? Wir wollen Macht ausüben, aber scheuen oft genug die Verantwortung, die damit einhergeht. Die Hybris und die vermeintliche Größe der menschlichen Werke, die Theodor Fontane so schön umschreibt mit “Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand” und damit das Missverhältnis zwischen der Bedeutung, die wir uns selbst beimessen und der tatsächlichen solchen im Zusammenhang des großen Weltgeschehens und dem Fluss der Jahrtausende wird hier besungen. Das Ganze wird schön von Orgelklang und einem erhabenen Choral im letzten Drittel begleitet, man denkt auch aufgrund des Textes automatisch an Verdis “Chor der Verdammten” aus der Oper Nabucco. Ein angemessenes Finale für eine schaurig-schöne Chimäre, die “Panoptikum” darstellt.
Hier hätten Chris und Dero das Buch durchaus zuklappen können, aber nein, ein Pfeil bleibt noch übrig im KREATUR-Köcher und wird erst ganz zum Schluss verschossen, nämlich die drei Bonustracks. Für die Coverversion vom Neue Deutsche Welle-Hit “Goldener Reiter” war es angeblich schwer, eine Freigabe vom Schöpfer JOACHIM WITT zu erhalten. Das Überrascht einerseits, wenn man die sehr harmonische Zusammenarbeit von Chris Harms und Witt bei der Produktion von dessen letztem Album denkt, doch wenn man das Cover anhört, wird schnell klar, dass es gehörig vom Original abweicht. Darauf folgen dann noch zwei Remixe von den Electro-Künstlern FADERHEAD und SOLAR FAKE. Besonderes Letztere schaffen das Kunststück, das nicht vielen Remixern gelingt, nämlich, den Song nicht so klingen zu lassen, als sei er künstlich bzw. unnatürlich verändert worden. Ihre Interpretation von “Kälter als der Tod” wird seinen Weg auf so manchen Dancefloor finden, soviel steht fest.
Fazit
“Panoptikum” bezeichnet üblicherweise Wachsfiguren- oder Kuriositätenkabinette und somit ist der Titel überaus passend, schließlich reiht sich jeder Song wie ein eigenes, seltsam anmutendes Wesen ein in eine lange Galerie von Absonderlichkeiten. Die Frage vom Anfang, ob sich die beiden Künstler eher ergänzen oder neutralisieren kann man nun klar beantworten: 200 % kommen als Ergebnis des sinistren Laborexperimentes heraus! Man mag konstatieren, dass auch hier bisweilen die typische “NDH-Krankheit” zum Vorschein kommt, nämlich allzu einfache Reimschemata, aber die Vielfalt der Soundelemente gleicht dies wieder aus. Ob Akkordeon, Theremin oder eigenartige Blasinstrumente (was ist das bei “MenschMaschine” im Hintergrund? Ein vom Keyboard simuliertes Didgeridoo?), die Fülle an wie von einem wahnsinnigen Schöpfer aneinandergepuzzelten Teilen ergeben am Ende ein vom Wahnsinn verzerrtes Konglomerat aus Schönheit und Schrecken. Der Chorgesang wirkt manchmal etwas deplatziert, z.B. Bei “Durch die Nacht”. Hier wäre weniger ggf. mehr gewesen, aber alles in allem haben wir es hier mit einer Platte zu tun, die in jedes Szene-Musik-Regal gehört!
Bewertung: 8/10
“Panoptikum” erscheint am 22. Mai bei NAPALM RECORDS.