Amphi-Festival 2023 – Sonntag

Zurück auf dem Amphi-Festival, denn die Wundertüte war ja noch halbvoll. (Normalerweise spricht man von halbvollen Gläsern, aber auf dem Festivalgelände herrscht Glasverbot. Wir halten uns daran!). Der Sonntag machte seinem Namen nur halb Ehre, die Sonnenperioden wurden immer wieder auch von Schauern unterbrochen. Aber die meisten Goths sind wasserfest. Wenn hie und da etwas die Schminke verläuft, behauptet man schlicht, das sei ein gewollter Effekt. Wetter kann der Schönheit der Amphi-Besucher nichts anhaben. Circa ab Windstärke 12 könnten ein paar Frisuren sich höchstens wahlweise der Batcave-Wurzeln oder des Viktorianischen Zeitalters erinnern und sich entsprechend auftürmen. Aber dazu kam es nicht.

Schon ab 11 Uhr starteten die ersten “zarten” Klänge auf der Hauptbühne, SCHÖNGEIST hauchte den wenig lebendigen Seelen der frühen Stunde behutsam Leben mit gepflegtem Dark Rock ein. Danach kam es zu einem besonderen Ereignis, als WIEGAND seinen erst fünften Live-Auftritt absolvierte. Die Formation ersetzte die aufgelösten THE JOKE JAY. Helge Wiegand hatten wir ja schon beim DIORAMA-Auftritt sehen können, nun wechselte er an die Main Vocals, unterstützt von keinem anderen als Amphi-Moderator und Szene-Tausendsassa Jens Domgörgen als Klangkünstler hinterm Pult. Natürlich sprachen danach alle über Helges schwarz-silbernes Sakko, aber können wir erst einmal kurz über Musik reden? Danke. Es gibt KetzerInnen unter uns – ich zähle mich auch dazu – die gerne mal die Frage stellen: Braucht es wirklich noch eine Synthpop-Duo-Formation in den mittleren Jahren, die vielleicht früher ein Motorrad gekauft hätte, um ihrer Midlife-Crisis Herr zu werden, jetzt aber unbedingt Musik machen möchte? Diese Art “Bands” schießen seit einigen Jahren wie Pilze aus dem Boden, um sich endlosen Luftschlangen gleich in den unteren Reihen der Line-up-Plakate auszubreiten. Die meisten davon verglühen schnell und tragen nicht wirklich etwas zur Qualität der Musiklandschaft bei. Elektronische Musik ist noch wesentlich leichter zu recyceln als Rock oder Metal, daher lädt dieser Bereich geradezu dazu ein, sich aus dem Baukasten der Synth-Beats zu bedienen und daraus irgendwas “Neues” zusammenzuschrauben”, das am Ende aber doch nur wie unausgegorene COVENANT oder mutierte VNV NATION klingt. Und doch ist genau diese endlose Wiederverwertung das Konzept sogar etablierter Electro-Bands aus der mittleren Preisklasse. Bei mir führt diese Entwicklung in der Szene zu einer gewissen Ermüdung, Resignation und Appetitlosigkeit auf Neues. Ich möchte das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung in dieser Lebensphase nicht kritisieren oder anprangern. Wir alle sind Sklaven der Bedürfnispyramide nach Maslow. Nur sind unsere Qualitätsansprüche an Selbstverwirklichung offensichtlich unterschiedlich. Mittelmäßige Musik tut keinem weh und wenn es den frischgebackenen Electro-“Stars” Freude macht, soll es so sein.
Und trotz der erwähnten Resignation halte ich es für wichtig, am Ball zu bleiben und sich nicht selbst die Chance zu nehmen, neue Perlen zu entdecken! Denn es gibt sie auch hier noch: Passionierte Musiker, die eine wichtige Botschaft haben und diese kunstfertig in elektronische Fassungen einzusetzen verstehen. BEYOND BORDER sind ein gutes Beispiel dafür und auch WIEGAND ist so eine Perle. Hier hat man endlich mal wieder ein vages Gefühl von Aufbruchstimmung. Der Schlüssel zu WIEGAND sind ganz klar die Texte und die muss man sich definitiv ansehen. Die Formation regt zum Nachdenken über unsere moderne Welt an. Instagram-Kultur, Selbstdarstellung und künstliches, virtuelles Leben sind die Themen, die Helge Wiegand in seinen Texten beleuchtet. Auch Fake-News oder Manipulation bekommen ihr “Anti-Manifest” verpasst. Als MASSIVE EGO aufgehört haben zu praktizieren, entstand ein Vakuum für diesen gesellschaftskritischen Synthpop und zum Glück haben sich WIEGAND dieser Aufgabe angenommen. Man mag anmerken, dass der Sound manchmal etwas zu minimalistisch daherkommt, aber so hat man Gelegenheit, die gesungenen Texte zu verstehen und darüber nachzudenken. Die Formation präsentierte vor allem Songs des aktuellen Albums “Arrived.” wie “Filter”, “Pied Pipers” oder “Alive”. Die Frage “When was the last time you felt alive?”, sollte sich jeder einmal stellen. Vor dem Song “Floating Away” machte Jens eine Ankündigung. Der Moderator und Musiker, der in Köln nur auf die Bühne darf, weil er vor Jahren zugestimmt hat, den Dom in seinen Nachnamen aufzunehmen und so auf ewig Werbung für’s Stadtmarketing zu machen, erklärte, dass es nun einen Drohnenflug geben würde und dass man die Drohne bitte nicht runterholen solle. Laut einem späteren Livestream wollte Helge den Song “Floating Away” schon lange einmal bei einer solchen Gelegenheit wie dem Amphi präsentieren. Denn er handelt von “Loslassen, Spaß haben, Bierchen trinken, zusammenkommen”. Nun, dieses Gefühl wurde definitiv vermittelt, danke Jungs. Damit endete dieser denkwürdige, frühe Auftritt auch wieder und wir können nur sagen: Weiter so, WIEGAND!

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Fotos: Mirco Wenzel

Hatten wir gestern schon harte Brüche erwähnt? Den ewigen Beschwerden, dass das Line-up der großen Festivals einen eintönigen Einheitsbreit darstellen würde, begegnete das Amphi-Festival in diesem Jahr mit der Verpflichtung von QNTAL und COPPELIUS. Erstere gibt es schon seit über dreißig Jahren. QNTAL sind eine der wenigen Bands, die es schaffen, mittelalterliche Musik mit synthetischen Klängen kunstvoll zu verweben. Eine Nische, in der sonst höchstens noch HELIUM VOLA ähnliche Qualität erlangen. An diesem Sonntag wurde der versammelten Amphi-Gemeinde ganz schön viel Qualität zugemutet. Während das Nachdenken über die Texte von WIEGAND noch relativ leichtfiel, mussten die meisten beim Nachfolgeact kapitulieren. Wie Frontsängerin Sigrid erläuterte, entstammen die Texte der Band aus vielen verschiedenen Sprachen, darunter alt- und mittelhochdeutsch, altfranzösisch und Latein. Es ist schön zu sehen, dass auch ein so vielschichtiges und anspruchsvolles Konzept wie QNTALS Musik auf einem Festival wie dem Amphi funktionieren kann. Sigrid erläuterte zusammen mit Michael Popp zu den meisten Songs den Hintergrund, sodass man ein Gefühl dafür bekam, zu was man sich hier eigentlich bewegte. Wenn man allerdings nicht gut genug bei den Ansagen aufpasste, meinte man wie ich zu hören, dass QNTAL Musik von “keltisch-druidischen Elfenmönchen” vertone. Mit diesem Bild könnt ihr jetzt anfangen, was ihr wollt. Jedenfalls kamen Songs wie “O Welt” und “Frühlingslied” sowie der Ohrwurm “O Mortem Festinamus” gut an. Bitte mehr solche Farbtupfer ins Line-up holen, Amphi-Festival!

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Fotos: Mirco Wenzel

Wenn man einen Abstecher ins Theater zu TRAITRS machen wollte, musste man frühzeitig losgehen, denn der Raum war mal wieder zum Bersten gefüllt. Das kanadische Duo hat noch den Status eines Geheimtipps, aber vermutlich nicht mehr lange. Die Formation stellte Songs ihrer Alben “Butcher’s Coin” (2018) und “Horses In The Abattoir” (2021) vor. (Abattoir bedeutet übrigens “Schlachthof”). Im Gegensatz zum Vortag wurde TRAITRS lichttechnisch sehr angenehm in Szene gesetzt. Die Stimmung im Theater war hervorragend und schwoll bei den beiden Hits zum Schluss namens “Youth Cults” und “Thin Flesh” noch einmal an. Hier wurde eine Empfehlung für größere Bühnen abgegeben.

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Fotos: Mirco Wenzel

Von SCARLET DORN hatte ich persönlich länger nichts gehört. Aber dieser mein subjektiver Eindruck täuscht. Im April hatte eine volle Tour mit SCHATTENMANN stattgefunden und diese war mit den “Dorn Diaries” auch sehr unterhaltsam begleitet worden. Leider ist ja Gared Dirge bei SCARLET DORN ausgestiegen, aber die Truppe hat auch ohne ihn noch genug Power und noch immer eine treue Fanbase, die im Theater zu Köln ein opulentes Set zu hören bekam. Das aktuelle Album “Queen Of Broken Dreams” stand natürlich im Mittelpunkt, auch wenn der Beginn des Sets den “Bloodred Bouquet”-Songs gehörte. Dann wurde mit “Falling” aber gleich zur aktuellen Platte übergeleitet.
In 50 Minuten wurde ein wilder Ritt durch die Diskographie absolviert, der auch Platz für “Klassiker” (Kann man das bereits sagen?) wie “Cinderella” und “Heavy Beauty” bot. Diejenigen, die nicht einen “Lack Of Light” sondern eher einen “Lack Of Guitars” beim Amphi monierten, fanden hier eine neue Heimat.

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Fotos: Mirco Wenzel

Auf der Hauptbühne ging es wieder elektronisch zu. SOLITARY EXPERIMENTS servierten ein bekömmliches Mittagessen für die Seele. Während fahrlässigerweise bereits anwesende COMBICHRIST-Jünger erbost zischten und schmerzerfüllt flüchteten, als die Berliner ihre lieblichen Klangorgeln anwarfen, gab sich das Gros der Menge bereitwillig der “Delight”ness hin und folgte Dennis Schober und Co. bereitwillig ins “Wonderland”, während Frank wie üblich seinen Halb-Striptease und Hüpf-Marathon absolvierte. Die “(Dead) Stars”, die COVENANT am Vortrag zu löschen vergessen hatte, “burnten still” und konnten so von SOLITARY EXPERIMENTS sinnvoll wiederverwendet werden und am Ende wurde mit vereinten Kräften der Sack Rice zum Fallen gebracht, ähh… nein Moment. Es wurde high gerised and deep gefallen, so war’s.

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Fotos: Mirco Wenzel

Nein, liebe COMBICHRIST-Jünger, eure Stunde schlug noch immer nicht. Erst war es Zeit für gepflegte Rockmusik, denn die UNZUCHT war in der Stadt. Man mag einwenden, dass das bei Köln 365 Tage im Jahr der Fall ist, aber wir reden natürlich von der niedersächsischen Dark Rock-Band um den frisch gebackenen OOMPH!-Sänger Daniel Schulz. Seit einiger zeit praktizieren UNZUCHT das Experiment, die bekanntesten Songs gleich zu Beginn des Sets zu spielen, statt wie allgemein üblich am Ende. Und so ging es auch hier gleich mit “Unzucht” und “Engel der Vernichtung” los. Auch die Ansagen folgten der bewährten Schulz-Manier: “Amphi-Festival. Macht mal Krach” schallte es von der Bühne und natürlich ließ die Kölner Crowd den sympathischen Fronter nicht im Stich. “Es gibt so viele Situationen, wo man nur ein Wort verwenden muss!”, gab es einen Hinweis auf den nächsten Song. Natürlich wussten wir daraufhin, was kommt: “Nein!”. Der komplett von Gitarrist und Brüllwürfel Daniel DeClercq geschriebene Song entfaltet live immer eine besondere Wucht und für manch einen Zuhörer mag es befreiend wirken, einfach mal die Faust zu recken und “NEIN!” zu schreien. Zwischendurch flogen trotz des durchwachsenen Wetters zwei Strandbälle über die Köpfe der Menge. Der Schulz nutzte die Gelegenheit, um auch darauf aufmerksam zu machen, dass das Debutalbum “Todsünde 8”, dessen Titelsong auch gespielt wurde, bald wiederveröffentlicht wird. Er war jedenfalls zufrieden mit der Resonanz, denn er merkte noch an “So ein geiler Platz. Familientreffen! Das Amphi ist wieder am Start!”, nachdem er seine übliche kurze Stagediving-Einlage hingelegt hatte. Ein solider Auftritt der Band, die live einfach immer Spaß macht.

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Fotos: Mirco Wenzel

Nun trennte sich gewissermaßen das Schwarze Meer in die Liebhaber von instrumentalem, handgemachtem Rock auf der einen und hartem Aggrotechabriss auf der anderen Seite CC vs. C. COMBICHRIST waren angetreten, die Main Stage als härtester Act des Abends zu zerlegen, während COPPELIUS das Theater bespaßten. Drinnen glänzte der sonst gut informierte Dr. Mark Benecke nicht gerade mit seiner Ansage, die nun auftretenden Personen seien “fiktiv”. COPPELIUS hat zwar eine fiktive “Bandgeschichte”, die den Ursprung der Band ins 18. Jahrhundert vorverlegt, aber die Musiker sind natürlich höchst real. Wie so oft in der letzten Zeit eröffnete die Kapelle auch hier auf dem Amphi das Set mutigerweise mit “Rainmaker”, obwohl wir keinen weiteren Regen gebrauchen konnten. Ich für meinen Teil tanzte absichtlich nicht dazu, um bloß nichts heraufzubeschwören. Besonders erfreulich war es, den eigentlich bereits zugunsten von mehr Familienzeit ausgetretenen Graf Lindorf auf der Bühne entdecken zu können. Auch an älteren Stücken wie “Schöne Augen” konnte man sich erfreuen, während Bastille und seine Kumpanen alles gaben. Natürlich durfte auch das mittlerweile recht beliebte SYSTEM OF A DOWN-Cover “Chop Suey” nicht fehlen, das für mehr Bewegung im Theater sorgte als es vorher bei sämtlichen Electro-Bands gegeben hatte. Da sieht man’s mal wieder: Es gibt Metal-Songs wo auch der Grufti nicht stillhalten kann. Nach dem großartigen Hit neueren Datums namens “Kryptoxenoarchäologie”, wo Le Comte Caspar am Mikro brillieren konnte, gab es zum Thema Cellistenflucht auch noch eine Ansage Bastilles, der erklärte, dass man noch keinen Ersatz gefunden habe, und dass der Graf daher als nun “externe Aushilfskraft” das Spiel der Kapelle verstärke. Zu “Gumbagubanga” gab es dann auch noch allerfeinste Direktnötigung zu Ausschweifungen, der man sich schlicht nicht entziehen konnte, da Bastille persönlich ins Publikum eilte und einen therapeutischen Hüpfkreis mit einiger Sogkraft etablierte. Da danach ein wenig auf der Bühne umgebaut werden musste, nutzte der Diener die Gelegenheit für ein kurzes Interview mit Kontrabassist Sissy Voss: “Ich habe gehört, Sie üben heimlich E-Bass?”. Der Angesprochene verneinte vehement: “Die Gerüchte haben sich nicht bewahrheitet. Ich spiele Konzertharfe! Die Kohlrabi-Konzertharfe funktioniert noch nicht!”. “Aha”, konstatierte der Interviewer. “Wir sehen also: Aus Herrn Voss bringen wir nichts Vernünftiges raus”. Nach dem ebenfalls altbekannten Song “Risiko” schallte es plötzlich in Sprechchören durch das Publikum “PROMOAKTION!”. “Woher wissen Sie das?”, war der Diener erstaunt. “Haben Sie auf meinen Spickzettel geschaut? Ich habe hier etwas für Sie. Coppelius ist nun im 21. Jahrhundert angekommen. Le Comte hat mich beauftragt, diese technische Zeichnung hier anzufertigen…”. Er brachte eine große Schriftrolle auf die Bühne und fuhr fort: “Wir können uns nun Coppelius 1.0 nennen. Ich habe mittels Geodreieck und Fineliner dieses Kunstwerk angefertigt”. Er entrollte einen großen QR-Code, dessen Scannen einen auf die Homepage der Kapelle brachte. Mit “Bitten, Danken, Petitieren” gab es noch einmal das herrliche Duell um das Podest zwischen Graf Lindorf und Bastille (Vielleicht zum letzten Mal?) bis das Set mit “Dark Ice” ausklang.

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Fotos: Mirco Wenzel

Da ich mich für das Theater entschieden hatte, konnte ich leider ausnahmsweise nicht das famose Set der Herren von COMBICHRIST sehen, das aber mein Fotograf Mirco als grandios beschrieb. Angeblich war der Sound exzellent, sodass die druckvolle Musik von COMBICHRIST sich im nachmittäglichen Köln voll entfalten konnte. Wer schon einmal auf einem CC-Konzert mit idealen Soundbedingungen war, weiß, dass diese massive Soundwand einen nicht kaltlässt. Was am Tag zuvor noch FRONT 242 getan hatte, nämlich die Vibrationsstatik der Anlage zu prüfen, erledigten nun COMBICHRIST. Auch wenn es kein ausgewiesenes Old School-Set war, konnte man doch aus der frühen Aggrotech-Phase einige Songs bestaunen. Dazu gehörten “Electrohead”, “Fuck That Shit” und natürlich “Blut Royale”, das sich in den Setlists ohnehin häuslich eingenistet hat. Hier kamen endlich alle diejenigen auf ihre Kosten, die geduldig den ganzen Synthpop ertragen hatten, obwohl sie eigentlich nur ihren “Anger feeden” wollten. Beim Amphi finden sie alle ihren Platz. Das grandiose, headlinerwürdige Set – so viele Ohrenzeugen – endete mit “They”.

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Fotos: Mirco Wenzel

Im Theater war es auch langsam Zeit für die Headliner und auch hier gab es nun nicht Alltägliches zu bestaunen. Die Schweden KITE hatten ihr Kommen angekündigt und der atmosphärische Elektrosound entfaltete sich im rappelvollen Theater. KITE-Konzerte sind wie das Eintreten in einen trancehaften Traum. Man kaum glauben, dass die fein rieselnden Klänge von dieser Welt stammen. Wenn man sich erst einmal in die schaurig-schöne Welt von KITE vertieft hat, gibt es so schnell kein Entkommen mehr. Kein Wunder, dass während der Gespräche auf dem Gelände bei der Frage, auf welchen Act man sich am meisten freue, häufig die Schweden genannt wurden. Das Kölner Publikum bekam Titel wie “I Can’t Stand”, “Panic Music” und “True Colours” zu hören. Hier hätte man sich länger als 55 Minuten Set gewünscht. Nicklas’ Stimme schwebte zwischen den Metallstreben des Theaters und schien es auch weiterhin zu tun, auch als schon alles für ACTORS umgebaut wurde.

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Fotos: Mirco Wenzel

Unsere Helden vom ESC LORD OF THE LOST waren für die jüngeren Szenegänger der Headliner des Abends. Wer schon etwas länger auf der Welt war, freute sich ggf. mehr auf OMD. Die Hamburger machten jedenfalls den Anfang. Unabhängig vom Ergebnis des Eurovision Song Contests wurde dieses Jahr zum ersten Mal auch in der Szene wieder richtig mitgefiebert und der sympathische und humorvolle Umgang der Bandmitglieder mit ihrem Abschneiden verstärkte noch das Zusammengehörigkeitsgefühl. Zunächst kam es zu einer Erschütterung der Macht, als Gared Dirge die Bühne mit einem immensen Schnurrbart und ansonsten nur im Borat-Outfit betrat. Man ist ja manchen Spaß gewohnt, aber das war wieder einmal außergewöhnlich schrill und sehr unterhaltsam. Offenbar konnte Dirge niemanden sonst in der Band von seiner Schnapsidee begeistern, die anderen hatten normale Konzertklamotten an. Dass er es trotzdem durchzog, spricht sehr dafür, dass sich bei LORD OF THE LOST jedermann frei entfalten kann. “Herzlich willkommen zu Hause, Amphi!”, begrüßte Frontmann Chris Harms die Menge, als mit “The Curtain Falls” das rasante Set eröffnet wurde. Mit “Dry The Rain” versuchte man wohl den Schaden auszugleichen, den COPPELIUS mit “Rainmaker” angerichtet hatten, folgerichtig wurde danach zu “Under The Sun” übergeleitet. Dieses Amphi bot wie gesagt beides. “Wenn wir richtig mitgezählt haben, ist es unser 5. Amphi!”, sagte Harms später. “Vielen Dank für die Einladung, ohne euch könnten wir das nicht machen”. Die “Loreley” wurde durch LORD OF THE LOST mal eben 132 KIlometer stromaufwärts versetzt und auch die “Full Metal Whore” bekam ungeachtet der Ausrichtung des Festivals ihren Platz zugewiesen. LORD OF THE LOST begeisterten die Massen und machten da weiter, wo UNZUCHT aufgehört hatten. Auch die neue Sportart “Ein-Mann-Circle-Pit” bekam wieder Gelegenheit zur Aufführung, als man sich beim Springen um die eigene Achse drehen und seine Nachbarn kennenlernen sollte. “Blood & Glitter” funktioniert übrigens auch ohne einen ESC-Kontext sehr gut, wie in Köln unter Beweis gestellt werden konnte. Ein schöner “Rock-Abschluss” auf der Main Stage.

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Fotos: Mirco Wenzel

Im Theater gab es davon aber auch noch etwas zu hören, denn es gab ja noch die ACTORS. Auch wenn schon einige ZuhörerInnen ihre Kraftreserven verbraucht hatten und an den Wänden auf dem Boden saßen, bildete der Auftritt der Postpunker aus Kanada für wieder andere den Höhepunkt des Amphi-Sonntags. Waren zuletzt einige Konzerte ausgefallen, so lieferten die Jungs hier wieder voll ab und zeigten, wieso sie die Headliner der Theaterstage waren. Mit “Love U More” begann das Set. Das 2021er Album “Acts of Worship” stand an dem Abend im Mittelpunkt. Auch weitere Höhepunkte des Albums wie “Like Suicide” und “Obsession” wurden gespielt. Von der aktuellen Kompilation-Scheibe “Reanimated” kam nur der Song ” How Deep Is The Hole” zur Aufführung.

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Fotos: Mirco Wenzel

Zum Programmende auf der Main Stage konnten wir Zeuge einer Zeitreise werden. OMD (Orchestral Manouvres in the Dark) bereicherten ganz entscheidend die Synthpop- und New Wave-Szene der 80er Jahre. Es ist gute Tradition, dass Amphi und M’era Luna regelmäßig eine Band aus dieser Dekade “wiederbeleben”. Für Menschen, die mit dieser Musik großgeworden sind – und das sind in der gut gealterten Szene etliche – ist so etwas wie Weihnachten. Noch einmal die alten Lieder hören, noch einmal den alten Gefühlen nachspüren, die man damals gehabt hat und die untrennbar mit diesen Liedern verbunden sind. Wir erinnern uns gern an Auftritte von THE MISSION oder EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN auf unseren Szene-Festivals und natürlich den OMD-Auftritt auf dem Amphi 2018 und wissen diesen Zeitreise-Service sehr zu schätzen. Ob “If You Leave” oder “Electricity”, die Augen leuchteten auf, die Hüften bewegten sich und man verband sich in wohlig-warmer Nostalgie und sang die alten Zeilen mit. Auf der Bühne hatte man auch noch lange nicht genug, wie mir schien und Andy, Paul und Co. nahmen die Menge gern an die Hand für diesen ganz besonderen Trip. Interessanterweise kennen selbst Jüngere die großen Hits der Band vom Hören und sind dann recht erstaunt, dass dieser und jener Song von OMD ist. Das konnte man besonders am Schluss bei “Enola Gay” beobachten, dieser Moment der Erkenntnis. Emotional gesehen war das jedenfalls ein gelungener Schlusspunkt für das Amphi-Festival 2023.

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Fotos: Mirco Wenzel

Doch halt! Einen Headliner dürfen wir natürlich nicht vergessen: Den Late Night Boot-Act L’ ÂME IMMORTELLE. Das geniale Duo aus Thomas Rainer und Sonja Kraushofer setzte den Schlusspunkt für alle maritim Veranlagten auf der Orbit Stage. Wer also statt in 80er-Nostalgie lieber in Bitterkeit schwelgen wollte, kam auf der MS RheinEnergie voll auf seine Kosten. Das Album “Im tiefen Fall” ist jetzt gut anderthalb Jahre alt , doch wir fallen noch immer. Direkt zu Beginn taumelten wir gemeinsam “dem Abgrund entgegen” und stimmten einmütig unser “Requiem” an. Genau genommen sind auch L’ AME IMMORTELLE bereits Veteranen. Es kommt mir vor, als hätte ich Songs wie “5 Jahre” vor sehr langer Zeit kennengelernt, das zugehötige Album “Gezeiten” stammt allerdings aus dem Jahre 2004. Trotzdem lang genug, seit man diese Zeilen das erste Mal las. L’ ÂME IMMORTELLE haben die Szene zurecht geprägt und tun es immer noch. Die hingebungsvollen Duette zwischen Thomas und Sonja, der Schmerz, die Gefühle, all das ist immer noch so echt wie vor zwanzig Jahren.
Mit “Stumme Schreie” und “Fallen Angel” endete das reguläre Set, aber natürlich konnte niemand die Band so einfach gehen lassen. Und so erbarmte sich die Gruppe unserer und kam noch einmal zurück um noch einmal zu bekräftigen, dass überall “Bitterkeit” herrscht und die Wunde in unseren Herzen tatsächlich nicht geheilt werden kann. Nun, ein wenig Herzschmerz war ja tatsächlich dabei, schließlich endete ein fulminantes Konzert und auch das ganze Festival mit diesen Worten.

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Fotos: Mirco Wenzel

Das war das Amphi 2023. Wieder eine wahre Wundertüte aus unterschiedlichsten Genres und eine Heimstatt für die unterschiedlichsten Menschen. Auch 2024 wird wieder alles Amphi! Der Termin für nächstes Jahr ist vom 27. bis 28. Juli 2024. Seid dabei! Seid Amphi!

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