KOLUMNE: Der Fluch der Revival- Hypes, heute die 90s

Jahresrückblick 2022? Wollt ihr?! Bekommt ihr!
Nee, nicht jetzt und nicht hier, aber das Netz ist voll davon, also gönnt euch.

Die SPX- Redaktion hielt es für eine gute Idee, mich einfach mal drauf los frotzeln zu lassen.
Diese Chance lasse ich mir natürlich nicht entgehen und habe auch direkt ein tolles Thema parat:

Revival Hypes!

Um nicht nur eure Augen, sondern auch eure Ohren zu foltern, habe ich passend zu diesem Kolumnenbeitrag eine Spotify-Playlist mit einigen mehr oder weniger schrägen Originalen jener Zeit und einigen in jeder Hinsicht herausragenden Covern erstellt. Klickt HIER und folgt uns beim Lesen in die Vergangenheit. Ihr werdet es bereuen! …äh, nicht bereuen natürlich, versprochen… 
Oh, it seems, ich hab mich da versprochen ;o) 

Das Handy hatte in den 90s seinen Durchbruch
(c) Victoria Watercolor/ Pixabay Licence

Gefühlt gibt es ja heute mehr 80er-Hits, als in dem ganzen Jahrzehnt selbst. Cover, Reworks, stilistische Zitate, einfach Achtziger überall. Mittlerweile eigentlich ganz angenehm, denn Acts wie THE WEEKND, FORM, MENTAL EXILE, JE T’AIME, ROXY DRIVE, THE MIDNIGHT, ACTORS, LEATHERS, NATION OF LANGUAGE und etliche mehr interpretieren und zitieren die damals wegweisenden Entwicklungen auf wunderbare Art und Weise, transportieren dieses Feeling also mehr oder weniger stiltreu in die Moderne. Da lassen sich all die furchtbaren Mainstream-Aufgüsse, wie seelenloser Euro Dance auf Fragmenten großer 80s Kult-Hits und furchtbar einfallslose Raps auf Muttis Lieblingssong milde belächeln.

Aber ihr habt garantiert auch schon die neueste Entwicklung des Mainstreams mitbekommen, oder?
Popsongs auf Samples, Kopien, Fragmente von Neunziger- Rave-Hymnen und ähnliche Verbrechen wie ein High Energy Pop Song auf EIFFEL 65s „Blue (Da Ba Dee)“?!
Man kann gar nicht so viel fressen, wie man kotzen möchte.

Der Witz: So furchtbar neu sind solche Experimente gar nicht. Der Markt ist bereits seit Jahren voll mit Covern, Reworx und Zitaten an diese künstlerisch nicht unbedingt wertvolle, dafür aber wilde und verrückte Zeit.
Generell gab es ja immer schon Zitate und Coverversionen, warum auch nicht?
Was aktuell aber schon auffällt, ist der Drang zu Hypes. Immer aggressiver, umfassender und schneller bekommen wir den Fingerzeig auf längst vergessene (oder verdrängte) Zeiten.
Und dann passiert etwas, was ganz eigene Wirkungen erzielt….

Grunge in Neon

Girl in den 90s
Mode und andere Krankheiten
(c) Yosue64/ Pixabay Licence

Beruflich und aus musikalischem Eigeninteresse (schlechter Musikgeschmack ist ja generell eine Grundvoraussetzung, um als Kritiker für Musikmagazine tätig werden zu können) stieß ich im Juni 2022 auf das Album „Better Than Electric“ der amerikanischen Indie- Künstlerin KID MOXIE.
Darauf enthalten der Titel „Thunderstruck (AC/DC Cover)“. Und entgegen der originalen Bezeichnung ist es eben nicht einfach ein Cover, sondern eine liebevoll umgesetzte Interpretation dieses Stadion- Hard Rock- Klassikers. Sehr gelungen und mit diesem einzigartigen „Wow“-Effekt. Was dann kam? Passt auf, diese Kolumne ist ja an dieser Stelle noch lange nicht am Ende.

Das führte zu dreierlei Effekten, auf die ich nachfolgend eingehen möchte.

The Real Freak

Es schleuderte mich zurück in die eigene Jugend, die ich in den 90s in der Zone verbrachte.
War ne komische Zeit, in der man mit seinem furchtbar gruseligen Kassettenrekorder, den man billigst vom „Begrüßungsgeld“ im Vorweihnachtsverkauf bei Karstadt in Hamburg (oder war es Lübeck? Egal, Hauptsache Hessen…) die ersten westlichen Alben auf Tape abspielte. Natürlich stilecht, wie man es aus Westfilmen wie „Beat Street“ kannte: Den Ghettoblasterchenchenchen lässig auf der hageren pubertären Schulter laut blechernd krakeelend durch die Plattenbauschluchten tragend.
Die (definitiv nicht) passende Piloten- Sonnenbrille, die man vom Vietnamesen am illegalen Straßenstand kaufte (wie auch ganz viele Kassetten und natürlich unversteuerte Zigaretten, liebe Grüße ans Finanzamt und die GEMA).
Und weil die Definition von „cool“ ja immer vom Blickwinkel abhängt, waren wir uns auch nicht zu schade, neben AC/DCs „Thunderstruck“ auch NKOTBs „Step By Step“, MC HAMMERS „U Can’t Touch This“ und -Achtung!- Frank Zanders „Kurt“ spazieren zu führen.
Sollte ruhig jeder mitbekommen, wohin die neuen Konsummöglichkeiten führen würden, haha.

Ohne Kassetten keine Musik in den 90s
analoge Playlist in den 90s
(c) Sapto7/ Pixabay Licence

Jetzt mal ehrlich, total blöd oder? Und trotzdem eine wunderbare und überwiegend unbeschwerte Zeit. Überhaupt war da immer und überall Musik, auch ohne Spotify und Co. Entweder, man hatte in den 90s seinen mobilen Kassettenabspieler (umgangssprachlich wird ja gerne SONYs Markenbezeichnung „Walkman ™“ genutzt) oder später einige auch den Discman dabei, oder es lärmte einer der vielen Rekorder. Daheim stand in der Regel ein HiFi- Turm mit Kassettendeck und Plattenspieler, später kam auch hier der CD-Player dazu. Und wenn all das nicht war, hatte man Musik im Kopf. Ja, liebe Kinder, die meisten von uns haben sich früher tatsächlich noch mit Musik, ihren Erschaffern und den Hintergründen beschäftigt und BRAVO-Poster an Zimmerwänden waren obligatorisch.
Keine Hookline-Soundschnipsel in kurzen TIK TOK- Videos und kein Hardcore- Durchskippen von Spotify- Playlists.
Diese Zeit war also so richtig schrill und frei, bevor Dinge wie „Rostock-Lichtenhagen“ (ich wohnte in unmittelbarer Nähe), wöchentliche Beerdigungen von Freunden, die dem Hype des Auto klauens und Rennen fahrens erlagen (im Wortsinn) und jeder Menge Struggle im abgewickelten System.

Der Autor am Anfang der 90s
(c) Dany Wedel 1991/92

Und an dieser Stelle ist man doch dann wieder dankbar für solche Songs,oder? Lasst uns gern auf Facebook unter diesem Beitrag Kommentare da, was euch so triggert, und wie ihr damit umgeht, wir sind gespannt wie die Unterhose pubertierender Jungs vorm HUNKEMÖLLER-Schaufenster.

Für so manchen dürfte all das oben Beschriebene auch eine Erklärung für manche kognitiven Fails beim Autor sein, an dieser Stelle liebe Grüße an die Redaktion. Ihr habt es so gewollt, so nehmt es hin!

Glory 90s?

Was Entwicklung von Popkultur im Allgemeinen angeht, sind die 80er unschlagbar. Die technologische Entwicklung in Studios und bei immer neuen elektronischen, analogen und teilweise bereits digitalen Instrumenten machte in diesem Jahrzehnt beinahe wöchentlich einen Quantensprung. Immer neue spacige Sounds, Samples und Remixes sorgten für immer wieder runterklappende Kinnladen, während Rock immer größer, schneller und härter wurde.

Aber erst in den 90s kam es zu einem unerklärlichen Urknall. Die Welt schien plötzlich befreit von Zwängen und einengender Spießigkeit. Wir bekamen den Techno mit all seinen Ausblühungen bis hin zur riesigen Love Parade. Wir bekamen Euro Dance und Rave, mit allen positiven wie negativen Konsequenzen.

Subkultur in den 90s: junge Skins bei der Haarpflege
Punk/ Oi Kids bei der Selbstpflege
(c) Dany Wedel 1994

Der Grufti lebte seine latent verborgene Aggression zu harten Industrial-Klängen aus, die Neue Deutsche Härte wurde geboren, dazu Grunge und allerlei weitere Splitterungen des Rock. Wer noch Anfang 1990 der heiße Scheiß war, von dem sprach schon 1991 niemand mehr. Dieses Jahrzehnt machte einen harten Cut und produzierte so auch etliche Verlierer.
Alles wurde bunter, wilder, teilweise bis in den Wahnsinn überdreht. Nahezu nichts davon wurde in diesem Jahrzehnt neu erfunden, aber statt Evolution stand Revolution auf den Bannern der aus dem Boden schießenden Subkulturen.

Rückblickend stellen wir fest, das in den 90s gar nicht „alles schlecht war“. Ja, furchtbare Phrase ewig gestriger Stammtischbrüder, aber in diesem Kontext eben passend. OK, BUFFALOS mit riesigen Plateausohlen, getragen in Kombination mit dem 70er-Jahre Zitat (Schlaghose) waren weder ein optisches Highlight, noch sonderlich gesund, sorgten bei Umstehenden aber gern für ausgesprochene Heiterkeit. Denn nichts sah fürchterlicher und lustiger aus, als junge Mädels, die sich darauf vorsichtig und so grazil wie Störche fortbewegten. Hauptsache schräg, schrill und auffallend halt.
Ohne all diese Entwicklungen gäbe es heute vieles nicht so, wie es jetzt ist: Kein Metalcore, kein WACKEN, kein AMPHI und eben auch keine Revival Sounds. Vieles hat sich gegenseitig befruchtet und es gab Kreativitätsschübe, weil nichts mehr unmöglich zu sein schien.
Jede Metal-Truppe hat heute mehr elektronische Geräte auf der Bühne, als alle Elektrobands vorangegangener Jahrzehnte zusammen. Habt ihr schon mal auf die Pedalsammlungen mit Effekten und Co. geachtet?
Gerade jetzt jedoch sehnen wir uns danach zurück.
Insbesondere im elektronischen Bereich scheint die Kreativität durch die technischen Möglichkeiten eher eingeschränkt, statt gefördert zu werden. Wer Rave-Hymnen von RMB heute mal genau betrachtet, wird feststellen, dass trotz der damals schwierigen Umsetzung mit vergleichsweise einfachen Mitteln ein Vielfaches an Details und Kreativität in den Songs steckte. Und das all das heute, wo solche Songs in wenigen Minuten am heimischen PC mit minimalstem finanziellen und materialistischem Einsatz gebaut werden können, irgendwie verloren scheint.
Egal welche Sparte: Das Motto der 2020er lautet eher „Geiz ist geil“ und „Masse statt Klasse“.
Da freuen wir uns doch irgendwie über Songs, die uns zurück in die Vergangenheit befördern, oder?
Denn wirklich futuristisch ist heute doch nichts mehr…

Macarena, auch so eine Seuche der 90s
Jawoll, keine Party in den späten 90s ohne “Macarena”…
(c) Dany Wedel 1997

Hype(r) Hype(r)

Der aktuelle Hype und die exzessiv eingesetzten Elemente der bunten 90s nerven gerade extrem und zeichnen ein völlig falsches Bild dieses Jahrzehnts.
Ich mag die hedonistische Diskothekenkultur dieser Zeit und feiere dies auch gern auf großen Revival-Events. Auffällig ist aber auch dort diese schräge Entwicklung. Das „Gammelfleisch“ feiert eher die echten Club-Hits jener Zeit, während die Jugend auf solchen Events ausgerechnet zu solch stinkenden Blüten wie Blümchen, Captain Jack und Co. eskaliert.
Wohlgemerkt: Eine Jugend, die in den Neunzigern noch nicht einmal geplant war, feiert heute genau das, was wir schon damals versuchten zu verdrängen.

Ist das jetzt der Ausverkauf unserer Jugend? Und ist das schlimm?
Ja und Jain. Denn all das mussten wohl auch schon die Generationen vor uns erleben, warum also sollten wir davon verschont bleiben?
Wir haben gegen Schlagerscheinheiligkeit und musikalische Volxtümelei rebelliert und uns in teilweise extreme Subkulturen gestürzt. Die heutige Generation rebelliert, indem sie das System umdreht und sich heute zu furchtbarstem Mallorca- Apres Ski- Saufgelage- Schlagern beim Gruppen-Kampftrinken abschießt.

Dennoch gibt es gerade im Independent-Bereich eben auch etliche kleine Perlen zu entdecken, die die guten Zeiten dieses Jahrzehnten würdig entstauben und uns so durchaus zu begeistern wissen.

Mobile Gaming in den 90s, der Nintendo Gameboy
90s High End Mobile Gaming dank NINTENDO Game Boy
(c) Ptra/ Pixabay Licence

Fazit

Wir sind hinundhergerissen. Für neue Releases dieser Art nutzen wir zeitgemäß nur zwei Smileys: Den mit Herzaugen und den im Strahl Kotzenden. Letzteren gerade deutlich häufiger, aber so what, wir können dem Kram ja aus dem Weg gehen.
Also tun wir doch einfach so, als wären wir erwachsen und ignorieren solche Hypes. Vielleicht ist unsere Enkelgeneration wieder etwas anders drauf, als die jetzige Young Generation.

Wir würden uns freuen, wenn ihr mit uns auf Social Media interagiert und uns wissen lasst, was ihr von dieser Kolumne haltet: mehr davon oder kann weg? Und inhaltlich was dazu beizutragen? Lasst es uns wissen, liked, teilt und kommentiert rege – wir sind gespannt auf eure Ansichten.

In diesem Sinne:

Euer Dany, der Eine von den ganzen Irren aus der SPX- Redaktion

Noch viel mehr Infos, Reviews, SPOTLIGHTs und bildgewaltige Konzertberichte findet ihr auf unserer Webpräsenz und natürlich auf Facebook und Instagram, sowie Youtube.

Einige Bilder entstammen der offenen Datenbank Pixabay und sind mit der Pixabay Licence für die freie Nutzung ohne Urheberangabe freigegeben. Dennoch verweisen wir gern auf die Quellen, weshalb wir nachfolgend die Bildquellen verlinken. Hier findet ihr die Urheber und deren weitere Angebote: Nintendo, KassetteGirl, Handy.

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner