Gegen den Strom – DIORAMA und ZOODRAKE live in Berlin
Gefühlt gibt es ja zur Zeit nur noch Tourabsagen und Hilferufe aus der Branche. Alle ächzen unter den enorm gestiegenen Kosten und den Unwägbarkeiten durch die wahrscheinlich wieder erstarkende Pandemie. Gibt es Hoffnung in diesen dunklen Zeiten? Ja! Wenn man bei “Hoffnung” ein paar Buchstaben austauscht, nämlich alle, erhält man: DIORAMA. Zufall? Ich glaube nicht! Die Formation aus dem Schwabenländle hat sich als bemerkenswert resilient erwiesen und füllt nach wie vor die Venues, schwimmt also erfolgreich gegen den Strom des Zeitgeistes an. Nach erfolgreichen Shows in Oberhausen und Rüsselsheim sollte nun der Osten der Republik auch nicht zu kurzkommen, Berlin und Dresden standen auf dem Programm. Ich durfte im Vorfeld der Berlin-Show ein Interview mit Torben Wendt führen, das ihr bald hier bei Sharpshooter finden werdet. Der Frannz Club in der Kulturbrauerei war gut gefüllt und die Vorfreude praktisch mit Händen greifbar. Zur Zeit saugt man einfach jede Show in sich hinein, als gäbe es kein Morgen. Außerdem gab es mit ZOODRAKE auch einen exzellenten Support, weshalb ein frühes Kommen Pflicht war. Hilton Theissen und sein Keyboarder Silvveil sind in der Szene natürlich keine Unbekannten, die Zusammenarbeit mit DIORAMA hat schon vorher sehr gut funktioniert und auch hier sah man etliche ZOODRAKE-Shirts in der Menge. Vor einem Jahr war das zweite Album “Seven” erschienen und bekam auch in der Setlist 50% des Platzes eingeräumt. Nach dem “Purified”-Trio “Solitude (You Will)”, “Sent To You” und “Upgrade” erklärte Hilton, dass der folgende Song zwei Personen in diesem Raum gewidmet sei, “die ich schon sehr lange kenne”. Es folgte “Success Of The Snake”, meiner bescheidenen Meinung nach einer der besten Songs der Band und übrigens auch mit Video auf Youtube zu finden. Ein guter Anspieltipp für ZOODRAKE-Virgins. Aber die besonders passionierte Live-Performance eines Hilton muss man schon live gesehen haben! Das ist Hingabe an die Musik, das ist authentisch. Der Mann lebt seine Kunst und versprüht pure Energie. Nach sieben Stunden Autofahrt und Ankunft in letzter Sekunde, wie wir im Laufe des Abends erfuhren, legten ZOODRAKE einen klasse Auftritt hin. “Death Bloom” führte zu viel Bewegung im Berliner Publikum, ich glaube dass hier auch einige Langschläfer in der Szene endlich in ZOODRAKE-Fans verwandelt werden konnten. “Wir waren ZOODRAKE – ihr wart geil”, bedankte der Fronter sich am Ende noch bevor das Set mit “Right Back” ausklang.
DIORAMA begannen dynamisch mit “Forgotten”. Schon bei ZOODRAKE hatte man gemerkt, dass der Sound in diesem kleinen Club wirklich großartig war, was meiner Meinung nach absolut unabdingbar für eine Band wie DIORAMA ist! Diese Art von “introvertiertem Electro”, die “melancholische Leichtigkeit”, wie Torben es selbst nennt, ist bei Live-Auftritten davon abhängig, dass nichts von der außergewöhnlichen Erfahrung ablenkt. Man muss die Möglichkeit haben, sich in Trance zu tanzen, sich von den Klängen tief ins Innere geleiten zu lassen. Daher kann ich auch nur immer wieder betonen: Lasst es nicht bei dem Besuch von Festival-Auftritten dieser Band bewenden! Ob ihr DIORAMA mittags um 13 Uhr auf irgendeiner Open Air-Bühne seht oder nach ausgiebigem Soundcheck abends in einem Club, macht einen deutlichen Unterschied. Ersteres kann auch gelingen, aber ich ziehe die Intimität von letzterem Erlebnis bei weitem vor. Das Set in Berlin war ein wundervolles Mosaik aus alten Klassikern wie “Exit The Grey” und neuen Lieblingsliedern wie “Gasoline”, verzahnt zu einem stimmigen Gesamtbild. In düsteren Farben ja, aber auch mit einem Schuss silbernem Glanz veredelt. Natürlich wurde hier auch dem aktuellen Album “Tiny Missing Fragments” ordentlich Platz eingeräumt. Kurz vor “Avatars” zollte Torben noch einmal ZOODRAKE und ihrer strapaziösen Anreise Respekt und ergänzte “Wenn ich Hilton sehe, denk ich immer: Oh, ganz verschwitzt. Und zwei Stunden später seh’ ich dann selber so aus”. Um dem vorzubeugen, reduzierte er hernach auch gleich mal die Oberbekleidung, indem er sich zumindest von der roten Lederjacke trennte. Felix behielt diesmal auch alles an, der Sommer muss wohl endgültig vorbei sein. Die Stimmung war überdies sehr gut, das Publikum war angemessen laut und auch leise an den richtigen Stellen. Das ist der Drahtseiltakt aus in sich gekehrter Kontemplation und extrovertierter Tanzakrobatik, die man als DIORAMA-Fan beherrschen sollte. Eine stilistisch homogene Band war DIORAMA nie, es gab schon immer Auswüchse in verschiedenste Richtungen und dennoch eine inhärente Handschrift, die alles zusammenhielt und noch -hält. Also obwohl es im Reutlinger Mischwald ganz unterschiedliche Arten von Bäumen gibt, die wild in alle Richtungen wuchern, findet der erfahrene Dioramaraner immer die Spur aus Brotkrumen und verirrt sich nie, sondern folgt dem Weg, den nur er sieht und findet am Ende bestenfalls – sich selbst. Wer an dieser Stelle Anzeige beim Bundesamt für inflationären Metapherngebrauch und unzulässige Abschweifung erstatten will, nur zu! Aber bitte die mildernden Umstände berücksichtigen: DIORAMA hören bedeutet eine Aktivierung sämtlicher Philosophie-Gene. Mit “Fast Advance – Fast Reverse” erscheint am 09.12. die neuste dieser “Brotkrumen”. Etwas mehr Informationen, was uns da erwartet, gibt es im bald folgenden Interview. In Berlin und Dresden (sowie erstmals in Rüsselsheim) wurde mit “Iisland” ein Track gespielt, der auf der neuen Scheibe in Form eines Faderhead-Remixes enthalten sein wird. Funktioniert live jedenfalls schonmal sehr gut. Aber auch älteres Material aus dem hinteren, verwilderten Teil des Waldes bekam den ein oder anderen Strahl Mondlicht ab. “Her Liquid Arms”, das Album von 2001 sollte vor allem in der Zugabe noch zu seinem Recht kommen. Hier, im Hauptset, durften wir uns über das wunderschöne, nachdenkliche “Light” freuen. “And your undulating dance in tantalizing slowness…” Das ist genau das, was ich meinte, das fragile DIORAMA-Gefühl, das Tanzen auf der Stelle mit geschlossenen Augen, die Stimmen im Hintergrund. Kleiner Fun-Fact am Rande: “Light” ist der einzige Song der Band, in der das Wort “Diorama” vorkommt. “Wir nehmen gerne ältere Stücke ins Set auf”, hatte Torben vorher noch angemerkt. Es ist schön, wenn eine Band auch nach langjährigem Bestehen noch diese Stücke aus der Anfangszeit spielt und damit die Verbindung zu ihrem früheren Ich herstellen mag. Nicht jeder Musiker ist mit seinem Frühwerk so im Reinen. Die schnell gesungenen Strophen, teils mit verzerrter Stimme bei “Sensation” vom aktuellen Werk stellte danach den perfekten Bruch dar. Die Klimax folgte zum Schluss mit den beiden großen Clubhits “Ignite” und “Synthezise Me”, also mit der Competition “Schwitzen wie Hilton”. Man sprang und riss die Arme hoch und rannte wie ein muggelstämmiger Hogwarts-Erstie “unbreaked against the wall” und war am Ende zwar nur noch “half alive” aber die verbliebene Hälfte fühlte man um so intensiver. Klar, dass da noch keiner genug hatte. Die verschreckten Musiker wurden zurück auf die Bühne gezerrt und gezwungen, “Patchwork”, “Advanced” und “Das Meer” zu spielen. Danach konnten sie irgendwie entkommen. Wie, darüber lässt sich nur spekulieren, denn die Menge war definitiv nicht in der Stimmung, mit dem Tanzen aufzuhören. War es, weil Drummer Markus “Marquess” Halter angeblich unter dem Vorwand freigelassen wurde, er müsse seine Sticks dringend in Arganöl einlegen, weil er sonst morgen in Dresden nicht spielen könne? Da die verrückten, unersättlichen Berliner zum Teil auch diese Show besuchen wollten, ließ man ihn möglicherweise ziehen und den Rest gleich mit? Irgendwie ist das alles gutgegangen, denn aus Dresden hörte man am nächsten Tag auch nur Lob und Zufriedenheit. Hoffentlich kommen wir bald wieder in den Genuss einer der DIORAMA-Konzertperlen. Danke an Zura, Markus, Felix und Torben für einen sinnerfüllten Abend in einer zusehends sinnentleerteren Welt.