Teil des Schiffs, Teil der Crew – SHIP OF REBELS-Festival 2022

Festival… macht eine Umfrage*auf den Straßen, was die Leute damit assoziieren und ihr werdet neben Musik zu hören bekommen: Zelten, Schlammschlacht, Party, Saufen etc. und das alles in der wildesten Pampa. Aber das muss nicht sein! Festivalfeeling funktioniert auch sauber und in Städten, sogar in sauberen Städten – oder dann halt doch lieber in Köln! Das SHIP OF REBELS jedenfalls hat seinen festen Platz in Köln-Marienburg. Wo den Rest des Jahres die Reichen und Schönen residieren, reichte es am Freitag “nur” zu Letzterem.

*Rein rhetorisch! Macht das bitte nicht! Nur das Privatfernsehen befragt “Passanten”. Die können nichts außer passieren und sagen Dinge wie “Äääh, ja ich glaube… Giraffe bumsfallera”. Auf solche Stimmungsbilder von der Straße können wir für unsere Meinungsbildung wahrlich verzichten.

Und weiter geht’s: Was assoziiert ihr mit “Ausverkauft”?
Passant 1: “Äääh… IPhone?”
Passant 2: “Dieses Wackön?”
Passant 3: “Giraffe… bumsfallera”
quod erat demonstrandum!

Das SHIP OF REBELS 2022 war tatsächlich ausverkauft, obwohl allerorten Veranstaltungen wegen schlechten Vorverkaufs abgesagt werden müssen. Der Krabbenkutter der Verdammnis war also voller als unser Fotograf (der aus dem Norden), aber keineswegs überfüllt. Denn die Location “Achterdeck” ist durchaus geräumig, man kann sich an Deck wunderbar verteilen. Gleich beim Einlass bekam man noch eine silbern schimmernde Eintrittskarte überreicht und fühlte sich fast wie Charlie beim Betreten der Schokoladenfabrik. Doch schon stand man vor der ersten Hürde: Dem Bonstand! Meinen Pfandbon von EDEKA wollten sie dort nicht in Zahlung nehmen und wiesen mich darauf hin, dass es andersrum läuft: Ich solle Bons kaufen, sonst müsste ich an Bord elendig verhungern und der Skorbutgefahr könne man auch nur entgehen, indem man ominöse Getränke mit Limettenschnitz darin erwürbe. Also trennte ich mich von einigen Aktien, um eine obszöne Anzahl an Bons zu erwerben.
Die erste Band SUIR war da bereits auf der Bühne und spielte den zweiten Song. Wegen Verzögerungen im Betriebsablauf wurden die Leute nämlich erst eine Dreiviertelstunde später an Bord gelassen. Aber gut, der meditative Sound des Duos beruhigte die Gemüter nachhaltig. Postpunk und Cold Wave standen musikalisch auf dem Zettel. Maßgeblich am Sound beteiligt war die besondere Gitarre von Lucia Seiß. Laut unserem Fachmann eine Vox Mk3, das besondere Design seht ihr auf den Fotos.

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Fotos: Mirco Wenzel

Gastronomisch betrachtet musste niemand ausreichend Bebontes darben. Es gab allerhand (sowie -fuß, -rücken usw.) vom Grill und riesige Portionen frittierte Kartoffeln, bei denen sich irgendwer die Mühe gemacht hatte, sie in kleine quaderartige Stifte zu schneiden. Aber was nützt ein voller Bauch, wenn die Seele hungert? Dagegen gab es nun CYTO auf den Tisch, von denen die beiden veranstaltenden Moderatoren Jens-Peter und Florian gleich auch mehrere Aussprachemöglichkeiten präsentierten. Der bärtige Herr an den Knöppen im Hintergrund kam recht vielen Rebellen bekannt vor, betätigt er sich doch normalerweise entweder als Wüstenführer oder als enttäuschter Zukunfts-Prophet. Sein liebevoll zurechtgeklöppelter, selbstverständlich flugfähiger Soundteppich machte einen… äh wesen-tlichen Unterschied und hielt den beiden sonnenbebrillten Frontgestalten nicht nur die Füße warm, sondern katapultierte sie auch in aladdineske Höhen. Neben Altbekanntem wurde mit “Disclosure” auch ein neuer Song präsentiert.

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Fotos: Cynthia Theisinger

Nun gab es eine überraschende Wendung im Line-up, die das Schiff gehörig auf den Kopf stellen sollte. Der Ansage nach wurde nun ein gewisser Sebastian geehrt, nebst seiner Frau, die nicht nur ihren Hochzeitstag feierten, sondern überdies noch den Geburtstag des Ehemannes. Wohin kreative Geburtstagsgeschenke musikalischer Art sonst führen können, sieht man an dem jüngsten Zuwachs im Malle-Repertoire namens “Der Zug hat keine Bremse”. Doch keine Sorge: Auf dem Achterdeck wurde heute kein neuer Schlager erfunden. Nach dem obligatorischen vielstimmigen Geburtstagsständchen wähnte Sebastian sich schon in Sicherheit, aber weit gefehlt. Seine Kumpanen hatten keine Kosten und Mühen gescheut und immer noch ein Ass im Ärmel. Eine entsprechend mexikanisch kostümierte Band betrat die Bühne und fing sogleich an, die Saiten zu schreddern, um Sebastian seinen diesjährigen Geburtstag nie vergessen zu lassen. Die vier passionierten Musiker gaben alles und es hat einen Riesenspaß gemacht und war zudem noch sehr witzig. Man munkelt bereits, dass das eine neue Tradition beim SHIP werden könnte. Ich persönlich war etwas verwirrt, schließlich hatte man mir JE’TAIME ganz anders beschrieben, aber das Missverständnis war schnell aufgeklärt. Die Mariachi-Truppe durfte sogar noch eine kleine “Zugabe” spielen und verließ unter tosendem Rebellenbeifall die Bühne. Da ja immer wieder Frachtschiffe auf dem Rhein vorbeifuhren, frage ich mich, was die Schiffer gedacht haben mögen, als sie eine Meute aus hunderten Gruftis zu dieser Musik abgehen sahen.

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Fotos: Cynthia Theisinger

Die wahren JE’TAIME durften nach diesem erfrischenden Intermezzo dann aber doch noch ans Werk gehen. Auch hier stand “Post-Punk” drauf, drin war aber noch einiges mehr. Die Jungs aus Paris leben Musik auf eine besonders intensive Weise, wie man schnell erkannte. Musik ist nicht immer verkopft, sondern kann auch etwas sehr Körperliches sein. Sänger Dany Boy bot jedenfalls eine Performance, die über das typische Repertoire an Bühnenbewegungen hinausgeht. Hin und wieder fast schmerzhaft zusammengekrümmt, rastlos tigernd oder sitzend zusammensackend bis hin zum Wälzen auf dem Bühnenboden war alles mit dabei. Bei solcher Hingabe kann man nicht anders als mitgerissen werden. Der bisweilen recht klagende Gesang erinnert viele an Robert Smith von THE CURE, ich persönlich wurde bei der Klangfarbe an eine ungleich kleinere Band erinnert und zwar an GODEX mit Sänger Tommy. JE’TAIME präsentierten vor allem Material von ihrem aktuellen Album “Passive” wie z.B. “Dirty Tricks” oder den schönen Titel “Give Me More Kohl”, und brachten eine völlig neue Soundfacette in den Abend, die sicherlich viele überrascht, aber auch begeistert hat. In Bezug auf Amphi und M’era Luna hört man ja häufig den Vorwurf, es würden ständig nur die gleichen Bands gebucht. Nun, die Lösung ist ganz einfach: Besucht kleinere Festivals, die ungewöhnliche Acts im Line-up haben. Das SHIP OF REBELS nimmt auch Neu-Rebellen auf ihrer Flucht vor dem Mainstream auf. Wenn wir ehrlich sind, bleiben wir als Schuster doch ganz gern bei unseren Leisten. Experimente sind mutig und werden nicht immer verziehen. Wir haben im ersten Abschnitt des Line-ups auf großen Festivals tatsächlich sowas wie einen Einheitsbrei – aber den haben wir teilweise selber gekocht und müssen ihn nun grummelnd auslöffeln. Hat jemand Zimt? Aber nichts ist schöner, als auf einem kleinen Festival eine für einen selbst neue Band zu entdecken, während der Redakteurskollege hinter einem auf- und abhüpft und einem ins Ohr kräht, dass er uns die ja schon länger empfohlen hatte. Nun, der Mann hatte tatsächlich Recht!

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Fotos: Cynthia Theisinger

Kurz vor dem Headliner wurde es hektisch hinter der Bühne. Nahte etwa die Ostindien-Kompanie bewaffnet heran? Drohte das Rebellennest aufzufliegen? Jedenfalls starrten alle gespannt aufs Wasser. Es stand irgendetwas bevor. Eine Begegnung. Eilig wurden “Waffen” in Form von Bengalfeuern ausgegeben. Mein Eindruck verstärkte sich: Wir sollten geentert werden! Da es noch immer halbwegs hell war, konnte man eine große Silhouette über das Wasser herannahen sehen. Fest umklammerte ich meine Fackel. Wer forderte unser SHIP OF REBELS heraus? “Da kommt das Gruftischiff!”, kommentierte jemand lakonisch. Aber natürlich! “Call The Ship To Port”, das amphi-eigene Partyschiff am Vortag gab es ja auch noch. Erleichtert atmete ich auf. Das waren schließlich Kollegen! Andererseits… wenn wir Rebellen waren, sind sie eigentlich das Imperium. Wussten sie nicht, dass bei uns gleich noch DIORAMA auftreten würden? Doch das Achterdeck war schließlich ausverkauft, wir konnten die armen Seelen von drüben also keineswegs aufnehmen. Sie hatten ihre Entscheidung getroffen, also sollten sie jetzt auch dabei bleiben! In dem Moment, als wir von dem nahenden Kahn verdächtiges Schlagergewummer hörten, legte ein Kanu am Steg des Achterdecks an und jemand von der ortseigenen Crew kam an Deck. “Dat is die Fantasie!” , sagte er knapp und deutet auf den Pott, der immer näher kam. Aha! Kein Gruftischiff, sondern Ü30-Schlagerschiff. Die kleinere Schwester der MS RheinEnergie (die wir eigentlich erwarteten) zog mit ihren zombiehaften Gestalten vorüber Ich senkte den Feuerstab. Die waren keine Gefahr. Ihr Zug hatte keine Bremse und ihr Schiff vermutlich auch nicht. Doch hinter dem Pott der Verdammten sah man nun endlich die richtige RheinEnergie herannahen. Jetzt galt es, Überläufer abzuschrecken. Als das Schiff mit uns gleichauf lag, entzündeten ich und meine Komplizen die Feuer und schwenkten sie wild hin und her. Die DIORAMA-Fans auf der gegnerischen Reling verharrten, bereits ein Bein über die Brüstung geschwungen und brachen den Fluchtversuch frustriert ab. Nachdem die Fackeln verloschen und der Schatten der RheinEnergie verschwunden war, wurde es nun Zeit für unser großes Finale.

DIORAMA besetzen für mich eine Nische. Eine Spalte in meiner Seele, von der ich noch vor zehn Jahren nicht wusste, dass es sie gab. Es ist wie mit diesen essentiellen Aminosäuren, die der Körper nicht selbst herstellen und von außen zuführen muss. Ohne sie herrscht Mangel und man kann sein Potenzial nicht voll ausschöpfen. Aber DIORAMA sind das Gewürz, mit dem das Leben gleich sehr viel besser schmeckt. Außerdem gibt es keine schlechten DIORAMA-Auftritte. Gut… das eine Jahr, als das AMPHI rund um die LANXESS-Arena stattfand und die Band in glühender Mittagshitze irgendwo outdoor spielen mussten, da war es herausfordernd, in das DIORAMA-Gefühl hineinzufinden.
Aber bei Sonnenuntergang auf einem Schiff – das ist eine ganz andere Geschichte. Hier konnte die Band ihr volles, emotionales Potenzial entfalten. Egal ob neuere Stücke wie “Sensation” oder “Gasoline” vom aktuellen Album “Tiny Missing Fragments” (Achtung: Ohrwurmpotenzial) oder ältere Hits wie “Synthesize Me”, jeder der Anwesenden griff sich aus der Schatztruhe seine Lieblingsstücke heraus und tanzte in die Nacht. Dank der Näher zum Wasser erschien es auch besonders passend, “Das Meer” zu spielen. Dass man auf einem Schiff war, merkte man besonders deutlich bei “Ignite”. Der Tanzhit brachte nämlich den Untergrund dazu, leicht zu schwanken. DIORAMA werden nie wirklich massentauglich sein. Zu verkopft, zu düster, zu rätselhaft. Zudem wird in der Electroszene vielfach wenig Wert auf Texte gelegt. Tanzen reicht manchmal aber einfach nicht aus, im Leben. Es lässt sich nicht alles wegtanzen und daher braucht man manchmal Antworten auf Fragen, die man sich nie gestellt hatte. DIORAMA füllen auf rebellische Art und Weise genau diese Lücke und dafür brauchen wir sie.

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Fotos: Cynthia Theisinger

Schließlich war die Bühne dann doch wieder verwaist, aber das SHIP OF REBELS hatte natürlich noch eine amtliche Aftershow-Party in petto. Die “Rebel Moon Party” erfasste den verschworenen Haufen unter der Leitung der tapferen DJs D.I.R.K., Der Große Schwarze, Oren Amram und Simone. Da es vorher nur vier mehr oder weniger schweißtreibende Bands gegeben hatte, spürten die meisten auch noch genug Kraft in den Knochen, um noch eine Weile weiterzutanzen. Fragt sich nur, was ich mit den vier übrig gebliebenen Achterdeck-Boons mache. Wie ich die Schurken hinter der Veranstaltung kenne, wechseln sie nächstes Jahr die Bonfarbe. Dann kommen sie eben in mein kleines Bonmuseum zu denjenigen aus der Turbinenhalle und den verstaubten Bier- und Metships vom Castle Rock. Auch nächstes Jahr wird es wohl wieder zwei Schiffe am Vorabend des Amphi geben – mach dein Kreuz beim Imperium oder entscheide dich für die sympathische Rebellen-Allianz in Marienburg!

Unser Dank gebührt natürlich vor allem dem furiosen Duo aus Jean-Pierre Reuter und Florian Schäfer, die nicht nur bewiesen haben, wie man mit einem einfachen und ehrlichen Konzept eine alternative Veranstaltung organisiert und ausverkauft, sondern uns mit ihren lustigen Videos zum Line-up-Ratespiel auch die Wartezeit versüßt haben. Danke für den grandiosen Törn, Jungs und auf ein Neues, nächstes Jahr! Ahoi!

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Fotos: Cynthia Theisinger
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