Review: EMIGRATE – The Persistence of Memory

Ein neues EMIGRATE-Album? Ja, ist denn schon Weihnachten? Haben wir das verdient? Waren wir alle brav? Mitnichten! Und dennoch… Richard Kruspe versorgt uns mit neuem Stoff. Es gibt Bands, die einmal “ihren Stil” gefunden haben und dann wie am Fließband Alben produzieren, die dann zu einem mehr oder weniger einheitlichen Ganzen verschwimmen. Und es gibt EMIGRATE.
Richards Kopf, der in stilisierter Version auch diesmal wieder auf dem Cover zu sehen ist, ist voll von Ideen, die alle unterschiedlich sind und nur lose zusammenzuhängen scheinen. Hier soll kein stimmiges Gesamtwerk oder Konzeptalbum präsentiert werden, sondern etwas vollkommen Unberechenbares und erfrischend Heterogenes.
Ich erinnere mich gut, wie schon die letzten EMIGRATE-Alben mich ständig von einer Regentonne in den nächsten Vulkan geschleudert haben, es war eine vollkommen wahnsinnige Reise durch zig unterschiedliche Welten in einer Seifenkiste ohne Bremse. Mal schnell, mal langsam, mal verschlungen und mal geradeaus.
Auch “The Persistence of Memory” bietet einige schnelle Stilwechsel und überraschende Abbiegungen. Zunächst muss man wissen, dass jetzt gar kein drittes Album geplant war. Es sollte eine Vinylbox aus den ersten drei Alben veröffentlicht werden, plus eine Bonusplatte mit bisher unveröffentlichten Songs. Aber Kruspe wollte dann doch mehr daraus machen und polierte gesammelte Werke aus zwei Jahrzehnten zu einer vierten Langspielplatte auf. Bevor man die Welt von EMIGRATE betritt, sollte man sich wappnen und für jedes Abenteuer bereit sein. Was auf Album Nr. 4 fehlt, ist die Ansammlung an berühmten Gaststars. Aber einer steigt unterwegs dann doch zu und das ist kein Geringerer als Richards Freund und langjähriger Wegbegleiter Till Lindemann. Starten wir den Höllenritt:

20 Jahre in der Schublade und doch hochaktuell!

Gleich beim ersten Song muss man erstmal stutzen und sorgfältig lauschen. Musikalisch gesehen, wähnt man sich in einer symphonischen Umgebung, eingehüllt in einen warmen Klangteppich aus pianeskem Keyboard. Apropos: Der neue Keyboarder der Band Andrea Marino kann hier gleich mal glänzen. Sanfte Kost! Ein eingängiger Refrain, etwas mehr Power ab Minute 2, aber an sich eine runde Sache. Kommt etwa Romantik auf? Titel und Textfetzen verraten aber, dass es durchaus auch um negative Gefühle geht. Hier steckt also mehr drin, als es auf den ersten Blick scheint.
Der nächste Song dürfte den meisten bekannt sein: “Always On My Mind” erschien in den 70ern und war mehrmals in den Charts. Insbesondere den PET SHOP BOYS verhalf er zu einigem Ruhm, die maßgebliche Fassung für Kruspe war jedoch die von ELVIS PRESLEY. Dieser habe ihn mit seiner Art beindruckt, das gesamte Lied mit seiner Stimme zu dominieren. Till Lindemann gelingt das natürlich ebenfalls, doch zum Schluss singen beide Musiker im Duett und setzen der Torte die Kirsche auf. Auch die an Filmmusik erinnernden Synths im Hintergrund passen hervorragend. Großartig!
Das besondere an Track Nr. 3 “Freeze My Mind”? Er klingt frisch und aktuell, ist aber sage und schreibe 20 Jahre alt! Richard Kruspe bestätigte, dass der Song 2001 entstand und einer der ersten EMIGRATE-Songs überhaupt war. Jetzt wurde er also veröffentlicht und das gleich als Single mit Video! Nachdem man ihn gehört hat, kann man nur sagen: Fuckin’ endlich! Auch hier haben wir deutliche Synths, die dem Song eine eigenwillige Coolness verleihen. Außerdem schlägt er die Brücke zu den vorhergehenden Alben, denn hier bekommt man die typischen Gitarrensoundwände auf die Ohren, die man z.B. von “Eat Me Alive” oder “Born On My Own” kennt. Ein gelungener Brückenschlag, man kann sich eingrooven und weiß wieder, wie sehr man EMIGRATE vermisst hat.

Eskalation lautet das Moto, meine Damen und Herren!

“Yeah Yeah Yeah” leuchtet einem aus der Titelliste entgegen und wieder weiß man nicht: Was kommt jetzt? Irgendeine Rapnummer? Kruspe wäre alles zuzutrauen. Aber nein: Hier kommt nicht mehr oder weniger als das Highlight des Albums, meiner Meinung nach. Der Song lässt einen komplett ausrasten. Die tolle Synth-Hookline trägt genauso dazu bei, wie der absolut intensive schnelle Refrain. Die Strophen sind eher minimalistisch ruhig gehalten, aber beim Übergang in den Chorus brechen alle Dämme und man kann sich ganz dem Wahnsinn hingeben. Und als ob man nicht schon vorher wie von Sinnen auf den “Lauter”-Button gehämmert hätte, schlägt einem aus der Bridge auch noch ein fröhliches “I feel it might get loud” entgegen. Beim Teil nach der Bridge brüllt man dann nur noch mit. Wow!
Danach wird es schwer, wieder runterzukommen, aber EMIGRATE entführt uns mit “Come Over” wieder in sanftere, besinnlichere Gefilde. Wenngleich nach dem Intro schon ein hüpfender Rhythmus einsetzt (am ehesten noch mit “Get Down” vergleichbar), scheint dem Song trotzdem eine gewisse Sehnsucht innezuwohnen, die durch die eindringliche Bitte “Please come over, my shadow-lost (?) friend” entsteht. Eine Mahnung klingt zwischen den Zeilen mit, die verbliebene Lebenszeit gut zu nutzen. Das Lied klingt mit Atemgeräuschen aus. Auch hier lohnt sich sicherlich ein Blick in die noch erscheinenden Lyrics.
“You Can’t Run Away” ist schwierig zu erfassen. Vom Rhythmus her eher langsam gehalten, dominieren auch hier wieder die Keys und es entsteht ein stampfendes Tempo und eine gewisse Dramatik. Vom Gesang her tendiert es fast ins Balladeske, Nachdenkliche und während des Refrains kann man gut die Augen schließen und mit dem Fuß wippen. Hierzu wurde das zweite Video veröffentlicht:

Ohne Manson, aber gruselig wird es trotzdem!

Huch, “Hypothetical”, den kennt man doch noch vom Album “Silent So Long”. Damals ein wunderbar aggressiver Song mit MARILYN MANSON am Mikro. Hier erhalten wir nun eine zweite Fassung, gesungen von Kruspe selbst. Nun, jeder mag selbst entscheiden, welche Version ihm oder ihr besser gefällt. Ich persönlich finde Mansons “dreckige”, teilweise kippende Stimme hier griffiger.
Der nächste Track “Blood Stained Wedding” macht den Eindruck, eine Geschichte zu erzählen, die sich zur Mitte und zum Ende hin zuspitzt. Erst kommt der Song langsam in Fahrt, dann wird die Tonlage höher und der Klang intensiver, bis das ganze mit einem letzten Keyakkord ausklingt. Den Song muss man definitiv mehrmals hören und auch den Text dazu lesen, um ihn in seiner Vielschichtigkeit zu begreifen. Auch ohne den Titel kann man an der eher beklemmenden Grundstimmung des Songs ablesen, dass die Geschichte nicht gut ausgeht. Einen letzten Pfeil hat Kruspe mit “Let You Go” noch im Köcher. Und was für einen! Einen äußerst scharfen. “Let You Go” ist keinesfalls, wie der Titel vermuten lässt eine schwülstige, von Liebeskummer durchtränkte Nummer. Nein, hier wird es einen Hauch gruselig-psychopathisch. Als Bonbon sind hier akzentuierte kurze Bläser-Stöße zu hören, die einen aufschrecken, während Kruspes teilweise diabolisch gehauchte Stimme den Zuhörer verstört. “I could let you go….” erklingt es immer wieder “…but I won’t”, ergänzt man in Gedanken automatisch. Ein mitreißendes oder besser gesagt zerreißendes Finale.

Fazit

Wer einmal ein ganzes EMIGRATE-Album gehört hat, wird süchtig. Dieser Strauß aus Eisenschrappnellen, an dem man sich liebevoll die Finger aufschneidet, trifft einen immer wieder aus völlig unterschiedlichen Richtungen. Und doch will man mehr!
Der neue Langspieler ist ein weiterer Ausflug in die Gedankenwelt eines Richard Kruspe und, wie bereits erwähnt, nicht nur in die derzeitige, sondern auch in längst vergangene Phasen seines Lebens. Richtig erfassen kann man EMIGRATE ohnehin nicht, dafür gibt es zu viele Facetten und man wird die kognitive Dissonanz nie ganz los, die beim Hören entsteht. Das Puzzle passt einfach nicht zusammen und das muss es auch gar nicht. Das ist das Reizvolle daran! Kauft es, liebt es oder hasst es, aber würdigt diese besondere künstlerische Leistung und behauptet nicht, es würde nichts in euch auslösen. Denn das wäre eine Lüge! Die elektronischen Elemente haben zugenommen, was sicherlich auch dem neuen Keyboarder zu verdanken ist. Das Elektro-Gewand steht EMIGRATE gut, solange die Gitarren nicht zu kurz kommen.

“The Persistence of Memory” erscheint am 12.11. über Emigrate Production/Sony Music Entertainment

Bewertung: 9/10

Tracklist
1. Rage
2. Always On My Mind
3. Freeze My Mind
4. Yeah Yeah Yeah
5. Come Over
6. You Can’t Run Away
7. Hypothetical
8. Blood Stained Wedding
9. Let You Go

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