Review: ANTIHELD – Disturbia
Ich bin mal wieder viel zu früh, klassisches Männerproblem – haha….
Für alle ganz Eiligen: kaufen, ohne „wenn“ und „aber“, ANTIHELD “Disturbia” ein grandioses Album, ihr könnt nichts falsch machen!
OK, das hätten wir geklärt, können wir den Beitrag hier beenden? Klar können wir das, aber warum sollten wir? Es gibt wahnsinnig viel zu diesem Album zu sagen und ich alte Plaudertasche habe nicht vor, mich zurück zu halten.
Aber immer schön der Reihe nach: DISTURBIA heißt das neueste Album von ANTIHELD, welches bereits seit einem Jahr angekündigt ist. Laut der Band ist dieses Album komplett während des ersten Lockdowns 2020 geschrieben worden und das Ergebnis kann sich sehen -äh- hören lassen.
Egal, ich kann nicht anders. Triggerwarnung: der folgende Beitrag wird jedes Phrasenschwein zum Bersten bringen!
Bevor wir auf dieses Goldstück näher eingehen, noch einmal ein „ANTIHELD Grundkurs“, quasi „Basiswissen to go“.
ANTIHELD sind Senkrechtstarter aus Stuttgart, die den Nachwuchswettbewerb „Play Live“ gewannen, auf großen Festivals spielten und nen „Major Deal“ angelten. Beide bisher veröffentlichten Alben stiegen sofort recht beachtlich in die Charts ein.
Der Sound der Band war poppig, manchmal mit einem starken „Kirmesmusikanten Einschlag“, aber auch immer mit einer leicht verruchten Note. Die Texte einprägsam und noch recht simpel, aber schon mit markanten Anspielungen und Metaphern, die durchaus Potential erkennen ließen. Nun könnte man sagen, als etwas rauere Deutschpopband hat man es geschafft und könnte sprichwörtlich die Füße hochlegen. Von Null auf Hundert inkl. ordentlich Playtime im Radio, was sollte da noch gehen?
Offenbar eine ganze Menge, denn die Band besann sich wieder auf ihren Ursprung und die Bandmitglieder mussten teils heftige persönliche Schicksalsschläge hinnehmen. Das führte zu einer grandiosen Entwicklung, die hoffentlich noch nicht abgeschlossen ist. Die Band hat mit ihrem aktuellen Label „Arising Empire“ offenbar einen echten Glücksgriff gemacht, denn das (vorläufige) Ergebnis dieser Entwicklung könnt ihr jetzt abfeiern.
Wie ihr bestimmt schon anhand der bereits veröffentlichten Titel erkennen konntet, ist die Band rockiger, ernster, und deutlich tiefgründiger geworden, die Vocals sind mit einem Verzerrer stilistisch schmutziger geworden. Die Band ist also weit weg vom seichten Pop, bietet viel Ungewöhnliches und bleibt dennoch sehr melodisch, ja sogar radiotauglich. Weg von der belanglosen Vollmilchschokolade, hin zur bittersüßen Tafel mit zarter Chilinote.
Es mag böse klingen, aber ich wünsche mir, das die Protagonisten weiterhin leiden. Denn wie sie diese Einflüsse kreativ verarbeiten ist einfach grandios, herausragend. Kurz: ANTIHELD – „Disturbia“ ist schon jetzt ganz klar das Album des Jahres!
Nun schauen wir uns „Disturbia“ noch etwas genauer an, wobei ich entgegen meiner eigenen Gewohnheit nicht jeden Song zerlegen und beurteilen werde, sondern eher ein paar Beispiele benennen werde.
Ich kann nur sagen, das es jede Menge Gefühlspunkte triggert. Man wankt von tiefer Trauer und Mitgefühl über Mitleid und überbordender Wut hin und her. Es gibt nicht einen einzigen belanglosen Text auf diesem Album, keinerlei “Füllmaterial”. Ja, das Album ist tatsächlich ziemlich dystopisch, aber es macht dennoch jede Menge Spaß und verleitet zum „immer wieder hören“. ANTIHELD haben mit „Disturbia“ den Missing Link in der Diversifizierung der Rockmusik präsentiert. Indi Rock mit großer Pop- Attitüde, grandiosen Arrangements und somit das Bindeglied zwischen radiotauglichem „Classicrock“, Punk und Avantgarde. Einfach ist auf diesem Album nichts, alles auf höchstem Niveau. Einziger, ganz winziger Wermutstropfen: die Verzerrung der Vocals behindert ab und zu das fehlerfreie Verstehen der Lyrics, da sollte man zukünftig minimal nachjustieren, denn gerade die Texte sind qualitativ herausragend.
Eröffnet wird das Album noch recht versöhnlich mit „Sommer unseres Lebens“ (Video hier), wobei sich versöhnlich auf das musikalische Arrangement und die Art des Textes bezieht. Inhaltlich geht es auch hier bereits ordentlich zur Sache, denn es handelt sich um eine Abrechnung der selbstverliebten Partygeneration mit engem Wahrnehmungshorizont. Geschrieben während der ersten bösen Auswüchse der (leider) immer noch grassierenden Pandemie. Plötzlich sind fehlende Partys, Masken tragen etc die größten Probleme unserer Wohlstandsgesellschafft, während anderswo der Alltag nach wie vor mit dem Kampf ums Überleben gefüllt ist.
„Motten ums Licht“ (Video hier) führt die Analyse dieser Generation noch etwas weiter und wird auch schon deutlich heftiger, während „My Only Friend“ (Video hier) den Topf etwas vom Feuer zieht. Inhaltlich es eine Analyse des eigenen destruktiven Lebensstils mit depressivem Einschlag, natürlich nicht ohne kleine Seitenhiebe auf Leute, deren Denken am Tellerrand endet.
„Irgendwo stirbt grad ein Kind“ (Video hier) ist eine einzige durchgängige Metapher für unsere Wirklichkeisblinde Gesellschaft. Ihr seht, thematisch schonungslos offen und direkt, aber dennoch irgendwie wunderschön.
„Himmelblau“ (Video hier) ist eine Abrechnung mit diesen leichtflüchtigen Schmetterlingen im Bauch. Aber auch hier diverse Anspielungen, die gerne jeder für sich interpretieren sollte. Musikalisch eine wunderschöne Ballade.
Mit „Standing In Line“ (Video hier) gibt es dann die wohl direkteste und böseste Abrechnung mit der Kirche, die im deutschsprachigen Raum bisher zu hören war. Es ist kein Song gegen Religion(en), sondern gezielt gegen die christliche Kirche (insbesondere katholisch). Die Wut dieses Titels wirkt nach und steckt an, denn wohl jeder schüttelt über die Zustände in dem Verein von „Gottes Stellvertretern“ den Kopf bis zum Schleudertrauma. Absolut ergreifend, perfekt arrangiert, ein monumentales Stück Musik!
„Oh bitte mach mich ein letztes Mal kaputt“ ist eine wütende Abrechnung mit dem Scheitern einer Beziehung. Im Gegensatz zu „Himmelblau“ so gar nicht traurig und balladesque, sondern laut und eben wütend. Dennoch kann man sich dem aufsteigenden Mitgefühl für den Protagonisten nicht entziehen, man fühlt förmlich 1:1 mit.
Das absolute Highlight auf „Disturbia“ liefern ANTIHELD mit „Wiegenlied“ (Video hier). Ich habe schon lange nicht mehr ein so intensives Stück Musik zu Ohren bekommen. Einen Song, der zukünftig sicher auf den Charts der Friedhöfe ganz weit oben landen wird. Gänsehaut vom ersten bis zum letzten Ton, jedes Wort triggert die Tränendrüsen. Ein furchtbar trauriges Lied und doch eine wunderschöne Umsetzung des persönlichen Leides. Noch nie war mitleiden so schön. Und irgendwie schafft es die Band, den Hörer damit zwar ordentlich „runter zu ziehen“, dabei aber nicht fallen zu lassen. Für mich ein absoluter Meilenstein im deutschen Rock. Ich muss allerdings gestehen, das diese Einschätzung nicht 100%ig objektiv ist, da ich die im Track beschriebene Situation schon im frühen Teenageralter mehrfach erlebt habe. Das prägt natürlich und ich kann die Lyrics daher ganz besonders nachfühlen. Meine Kenntnisse von der Materie lassen mich aber glauben, das dieser Song auf lange Zeit der Leuchtturm im Meer der (noch wachsenden) ANTIHELD Liedern sein wird.
So, nun habe ich doch eine Vielzahl der Titel des Albums direkt etwas beleuchtet, sorry.
Ich hatte das seltene Vergnügen, dieses Album schon etwas länger hören zu können und habe tatsächlich eine persönliche Beziehung dazu aufgebaut, kurz: ich liebe es! Danke ANTIHELD und ja, danke Pandemie! Denn ohne die wäre dieses Album vielleicht anders ausgefallen. Es scheint sich eine alte Künstlerweisheit zu bewahrheiten: glückliche Musiker schreiben keine guten Lieder, und ANTIHELD waren offenbar sehr unglücklich.
Fazit:
Das Jahr 2021 hat erst ein Viertel hinter sich und dennoch lehne ich mich weit aus dem Fenster und vergebe an ANTIHELD – Disturbia den Titel „Album des Jahres“! Es ist eine herb-süße Mischung aus Pop, Rock, Indie, Avantgarde und Punk, gepaart mit sehr persönlichen, direkten, traurigen und wütenden Texten. Es ist irgendwie null Mainstream und doch wird es in Charts und Radio eine gewichtige Rolle spielen, jetzt und in Zukunft. Die noch junge Band hat sich mit dem erst dritten Album bereits ein monumentales Denkmal gesetzt.
Tut der Band etwas Gutes und kauft das Album, den Merch und besucht die Konzerte, sobald dies wieder möglich ist. Tut euch selbst einen Gefallen und tut alles, was der deutschen Musiklandschaft diesen Diamanten erhält. Und immer dran denken: Streaming allein hilft keinem Künstler, kombiniert es mit Käufen.
Note 10/10
Die Tracklist:
- Sommer unseres Lebens
- Motten um Licht
- My Only Friend
- Irgendwo stirbt grad ein Kind
- Himmelblau
- Standing In Line
- Chaos Intro (Interlude)
- Chaos
- Alles Gute für den Winter
- Oh bitte mach mich ein letztes Mal kaputt
- Alles Nichts
- Wiegenlied
- Von Schmerz & Apotheken
Infos:
Act: ANTIHELD
Album: DISTURBIA
Label: Arising Empire
Release: 09.04.2021
Quellen: überall, wo es CDs & Downloads zu erwerben gibt, dazu auf den großen Streamingportalen
Zusatzinfos (situationsbedingt ohne Gewähr):
DIsturbia Tour 2022
- 03.2022 Hamburg
- 03.2022 Berlin
- 03.2022 Leipzig
- 04.2022 Köln
- 04.2022 Bochum
- 04.2022 Nürnberg
- 04.2022 München
- 04.2022 Hameln
- 04.2022 Münster
- 04.2022 Saarbrücken
- 04.2022 Frankfurt/ Main
- 05.2022 Bremen
- 05.2022 Kiel
- 05.2022 Lustenau (Österreich)
- 04.2022 Ulm
- t.b.a. Stuttgart
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