NIGHTWISH – “zu siebt” beim Abschlusskonzert in Gelsenkirchen

“After the planned shows for June 2023 we will be “hanging up our spurs” for an indeterminate time”. Die Nachricht, dass NIGHTWISH für eine unbestimmte Zeit nicht mehr live spielen wollen und auch das im nächsten Jahr erscheinende Album nicht mit einer Tour einhergehen wird, hat die Fans gewissermaßen ins Tal der Tränen gestürzt. Aber es gibt natürlich auch Verständnis für die wohlverdiente Pause der Band, zudem Sängerin Floor Jansen ja ihr nächstes Kind mit SABATON-Drummer Hannes van Dahl erwartet. Umso “wertvoller” waren aber die erwähnten letzten Juni-Konzerte, von denen nach der Absage des Berlin-Gigs nur noch eines auf deutschem Boden übriggeblieben war. Das Gelsenkirchener Amphi-Theater ist eine besondere Location und bot so den passenden Rahmen für diese besondere Nacht. Etwas melancholisch war mir schon zumute, als ich bei Sommerhitze und strahlendem Sonnenschein durch den Nordsternpark Richtung Location schlenderte. Schließlich hatte bis 2015 genau um diese Zeit hier immer das Blackfield-Festival stattgefunden. Das sind schöne Erinnerungen, aber das Festival ist fort und auch das “Folkfield” von SCHANDMAUL wurde gerade auf das nächste Jahr verschoben. Aber heute sollte der Zauber noch einmal in die ehrwürdige Location zurückkehren…

Da die Vorband BLOODRED HOURGLASS aus Landsleuten von NIGHTWISH besteht, konnte man auch von einer “finnischen Nacht” sprechen. Als das Sextett (mit gleich DREI Gitarristen) um 19:45 Uhr begann, stand die Sonne allerdings noch am Himmel und bescherte den Zuschauern zahlreiche Sonnenbrände in Gesicht und Nacken. Eigentlich war der Beginn laut Online-Informationen schon früher erwartet worden, weshalb die Leute ab 19:20 Uhr bereits ungeduldig zu klatschen begonnen hatten. Die Finnen ließen sich allerdings nicht drängen und stürmten erst um Viertel vor auf die Bühne. Der Support-Act trat ungleich aggressiver auf als die Stars des Abends, was auch erst einmal zu verhaltenen Reaktionen im Publikum führte. Die Konzeption des Amphi-Theaters wollte es, dass der Großteil der ZuschauerInnen auf den ringförmig angeordneten Stufen saß und stand und ein weiteres Kontingent füllte den kreisrunden Platz direkt vor der Bühne. Auf den Rängen zeigte die Menge sich von den Bemühungen von BRHG relativ unbeeindruckt, nur unten vor der Bühne konnte man gut ein Dutzend Hardcore-Fans ausmachen, die beständig auf- und abhüpften. Die Band spielte natürlich Songs des aktuellen Albums “Your Highness”, aber auch ältere Stücke. Sänger Jarkko zeigte sich vor allem von der örtlichen Witterung beeindruckt: “Wow. Look at that weather”, meinte er und kündigte etwas kontrovers zur Sommerhitze den Opener des 2017er Werkes “Godsend” namens “Waves Of Black” an. Hin und wieder klangen durch den Blastbeat und das Gebrüll auch doomige Gitarren-Anleihen durch und man merkte deutlich, dass die etwas langsameren und “verträglicheren” Stücke in der Mitte des Sets deutlich mehr ZuhörerInnen abholten als der Rest. “Germany, we wanna see your hands. Come on!” versuchte der Fronter, der Menge mehr Leben einzuhauchen. Dann fragte er noch, wer BLOODRED HOURGLASS heute zum ersten Mal sehe und wer Wiederholungstäter sei. “12 people, okay. To the rest of you: Welcome to the family!”. Sein Wunsch nach Circle Pits erfüllte sich jedoch nicht. Vielleicht war es dafür auch einfach zu heiß, Bassist Jose Moilanen übergoss sein Gesicht mehrmals mit Wasser. Nach einem Hinweis auf den nächsten Gig auf dem Summer Breeze Open Air verabschiedete der Support sich, der das Gelsenkirchener Publikum leider nicht ganz überzeugen konnte.

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Fotos: Ulli

Um Punkt 21 Uhr erstrahlten die goldenen Runen von “Human :||: Nature” auf der Videoleinwand und die Band der Stunde erschien auf der Bühne des Amphi-Theaters zum Percussion-Intro des Songs “Music”, das dann aber direkt in den Kracher “Noise” überging. Die neue Videoshow der “Human :|| Nature”-Tour kam auch hier wieder zum Einsatz und unterstützte die Show audiovisuell. Es war schon ein anderes Gefühl als sonst bei NIGHTWISH-Konzerten, man hatte schon beim ersten Song das Gefühl, dass die verbliebene Zeit einem wie Sand durch die Finger rann und viele der Anwesenden gaben ihre ganze Leidenschaft für dieses letzte, intensive Konzert. Floor Jansen, im sechsten Monat schwanger, strahlte und bewegte sich elegant wie immer und machte nicht den Eindruck, sich schonen zu wollen. “Schönen guten Abend, Gelsenkirchen!”, rief sie überschwänglich. “Das ist der letzte Abend”, bevor das Intro von “Storytime” erklang. Zwischendurch gab es auch immer wieder Pyroeffekte, regelrechte Feuerfontänen rösteten die ersten Reihen der Zuhörenden z.B. beim archaischen Stück “Tribal” vom aktuellen Album. Bei “Élan” wurde der Refrain vom ganzen Publikum enthusiastisch mitgesungen, insbesondere das letzte “Come!” erklang donnernd und rein in den sich verdunkelnden Himmel. Der uralte Hit “Sleeping Sun” wurde von Floor andächtig, ernsthaft vorgetragen, nur um danach beim “Once”-Opener “Dark Chest Of Wonders” wieder voll aufzudrehen. Dieser Song gehört sicherlich zu den All-Time-Favourites und bietet die gesamte NIGHTWISH-Palette von Orchesterpassagen, über ikonische Refrains bis hin zur identitätsstiftenden Mystik-Lyrik der frühen Jahre. Man kann ohne Weiteres von einem frühen Höhepunkt im Set sprechen. Doch die Wogen des vielseitigen Sets beruhigten sich hernach wieder etwas, als Floor mit Troy Donockley zusammen “How’s The Heart” mehr oder weniger akustisch performte. Die besondere Location des Amphi-Theaters zeichnet sich übrigens auch dadurch aus, dass sie direkt am Rhein-Herne-Kanal gelegen ist. Das bedeutete nicht nur, dass sich am anderen Kanalufer im Verlaufe des Abends eine weitere Zuhörerschaft aus stehengebliebenen Joggern, Spaziergängern und Radfahrern bildete, sondern auch, dass immer wieder große Frachtschiffe hinter der Bühne vorbeifuhren. Während des Songs “I Want My Tears Back” fuhr zum Beispiel die “Mistral” aus Hamburg vorbei und die Schiffer kamen sämtlich an Deck, um der Menge zu winken und die Metalhand zu recken. Ein sehr schöner Moment war das, in dem sich die besondere Emotionalität des Abends auch über die Location hinaus in die Welt ergoss. Dass man auch mit Babybauch headbangen kann, bewies Floor bei “Sahara”. Der einzige Beitrag des Albums “Dark Passion Play” wird erst seit Beginn der “Human :|| Nature”-Tour wieder live gespielt, nachdem er zuvor etliche Jahre in der Mottenkiste verschwunden war. Nach diesem intensiven Körpereinsatz merkte man der werdenden Mutter erstmals eine gewisse Anstrengung an, als sie ächzend neben Troy auf einem Stuhl Platz nahm und ihren schwangerschaftsgebeutelten Rücken verfluchte. “Usually it’s dark when we play”, merkte die Sängerin an. “But we ask you to bring your lights nevertheless. You can shine it on anyone who’s with you or whom you wish he or she would be with you tonight. Somebody who is close to your heart. We play our loveletter to all of our parents now”, leitete Floor “Our Decades In The Sun” ein. Ein wunderbar emotionaler Moment, den viele im Publikum nutzten, um die Hand eines Begleitenden zu nehmen oder sich anzukuscheln. Man sah aber auch Tränen fließen, denn nicht jeder der Anwesenden hat noch beide Elternteile. Nach diesem Herzenssong ließ sich erstmals an dem Abend Troy vernehmen: “Good evening you beautiful people”, sagte der ergraute Brite mit seiner sonoren Stimme. “This is not like a concert. It’s more like a party at a friend’s house. I enjoy this evening more than my brother’s wedding”, erntete er etliche Lacher. “As you might know, Nightwish-Fans are the smartest in the world. Please tell me what the latin word for “nobody” is!”. Spätestens da wusste jeder eingefleischte Fan, was kommen würde und natürlich: Der größte NIGHTWISH-Hit aller Zeiten “Nemo” ergoss sich ins hungrige Publikum und kühlte die brennenden Herzen ab. Man hatte an der Stelle aber schon das beunruhigende Gefühl, dass damit das Finale eingeleitet worden war. Doch zunächst wurde noch eines der absoluten Schmuckstücke des aktuellen Albums gebührend gefeiert: Das ikonische “Shoemaker”, eine Hommage an den Astronom Eugene Shoemaker, dessen Asche als einziges terrestrisches Lebewesen teilweise auf dem Mond begraben liegt. Egal, wie oft man die Performance dieses Songs beobachtet… wenn Floor am Ende des Songs die lateinischen Worte “Laudato si ad astra” singt, während sich der Orchestersound immer mehr zuspitzt, gibt es niemanden, der keine Gänsehaut bekommen würde. Es ist einfach ein wunderschönes Stück Musikgeschichte und diese Hymne voerst nicht mehr live hören zu können, tut einfach nur weh. In diesem Moment war aber noch keine Zeit für Trauer, denn die Türen des dunklen Freizeitparks öffneten sich für den “Last Ride Of The Day”. Die wilde Achterbahnfahrt durch die “Imaginaerum”-Zeit war wie immer die reine Freude. Aber ab jetzt wurde nicht mehr gebremst und die Schlagzahl blieb hoch, denn das “Opus Magnum” des “Once”-Albums, das unerreichte “Ghost Love Score” prasselte mit all seinen unterschiedlichen Passagen auf uns ein. Bei der Textzeile “like the advent of may” berührte Floor sicherlich nicht zufällig ihren Babybauch. Ein Song fehlte natürlich noch in diesem Feuerwerk des Finales und er wurde ohne Umschweife direkt nahtlos angeknüpft. Die Rede ist natürlich von “The Greatest Show On Earth”. Wir wissen aus mehreren Interviews, wie viel der Song den Mitgliedern der Band, allen voran Tuomas bedeutet und es gibt kein besseres Stück für den Abschluss eines Live-Sets. Das Piano-Intro zelebrierte Tuomas andächtig und respektvoll, während der Sternenhimmel auf der Leinwand hinter ihm kurz die Farben der ukrainischen Flagge annahm. Eine kleine, aber wohldosierte Geste der Finnen. Jetzt spürte man tatsächlich, wie die Sekunden verrannen und ich für meinen Teil habe noch nie so bewusst jede Zeile des 24 Minuten-Stücks mitgesungen und jeden Wechsel der Motive auf der Videoleinwand so gebannt verfolgt, wie an diesem Abend in Gelsenkirchen. Doch dann war es tatsächlich vorbei und uns wurde schmerzhaft bewusst, dass wir lange nicht mehr diese Gefühle haben würden. “Thank you so much for coming out tonight, schloss eine sichtlich bewegte Floor Jansen den Abend ab. “We’ll take with us these memories. It was a true pleasure. We promise to came back in the future” suchte sie die Versöhnung mit den verzweifelten Fans. Es ist ein Abschied auf Zeit. Lange noch saßen viele Fans auf den Steinstufen und starrten auf die leere Bühne. Viele Paare hielten sich eng umschlungen und küssten sich. NIGHTWISH hatte es wieder einmal geschafft, den Ort zu verzaubern und eine Vielzahl von Emotionen heraufzubeschwören. Bleibt nur die Frage, was das Kind von all dem mitbekommen hat und ob es eines Tages die Aufnahmen von diesem Abend sehen wird, als es als “siebtes Bandmitglied” mit auf der Bühne war und “The Greatest Show On Earth” feierte. Wir verabschieden die größte Symphonic Metal-Band aller Zeiten in die Pause und wünschen Floor und Hannes alles Gute für ihre wachsende Familie.

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Fotos: Ulli

“There is grandeur in this view of life, with its several powers
Having been originally breathed into a few forms or into one
And that whilst this planet has gone cycling on according to the fixed law of gravity
From so simple a beginning endless forms most beautiful and most wonderful have been
And are being, evolved”

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