Summer Breeze – So war der Freitag (NASS!)
Auf der Insel der Seligen in Dinkelsbühl war die Welt noch in Ordnung, als an diesem Freitag die Sonne aufging. Man frühstückte entspannt, zog Bilanz auf der Hälfte der Veranstaltung und freute sich seines rockigen Lebens. Währenddessen würfelten die fiesen Götter im Olymp, weil ihnen das Breeze 2022 viel zu glatt über die Bühne ging. Nach einem Sechser-Pasch von Schicksal stand fest: Heute wurde es deutlich würziger! Eine Überleitung von Gewürzen zur ersten Band wäre hart an der Grenze des scharfen Geschmacks, also lassen wir das lieber.
Meine Neuentdeckung des Wacken 2019, BLOODYWOOD, eröffnete meinen dritten Festivaltag und versetzte mich wieder einmal in Entzücken. Die Truppe aus Neu-Delhi hatte sicherlich einen der weitesten Anreisewege gehabt. Und das für einen 40-Minuten-Slot! Aber gut, die Jungs wollen nach oben und sind auch auf dem besten Weg dorthin. Ihr ungewöhnlicher Metal wird durch indische/asiatische Soundelemente aufgeladen. Die Dhol, eine große Trommel, die mit zwei Fellen an den Enden bespannt ist und quer vor dem Bauch getragen wird, ist ein Beispiel dafür, so wie auch diverse Flöten. So entstehen treibende Rhythmen ungewöhnlicher Einfärbung, die die Zuschauer aufwühlten, wenn nicht gar innerlich umflügten. Natürlich ist der Sound von BLOODYWOOD hart und aggressiv, aber wenn man weiß, dass die Musiker hier ihre Erfahrungen auf den Straßen Indiens verarbeiten, dürfte das niemanden mehr verwundern. Außerdem charakteristisch ist das Gesangs-Duo mit Growls durch Jayant Bhadula einer- und gerappten Einlagen von Raoul Kerr andererseits. Es wurden hauptsächlich Songs des ersten richtigen Studioalbums (Das Debut “Anti-Pop Vol. 1” war ein selbst produziertes Coveralbum) “Rakshak” gespielt, so zum Beispiel “Gaddaar” und “BDSK.exe”, aber auch das bewegende “Jee Veerey”, das damals als Botschaft gegen Depression entstanden war. Dazu machten die Sänger eine emotionale Ansage und animierten alle Leute mit Depressionen, den Kampf nicht aufzugeben und sich Hilfe zu suchen. Die Band machte auch keinen Hehl aus den Schwierigkeiten, denen sie sich im bisherigen Leben stellen mussten, um letztendlich auf großen Festivals stehen und spielen zu können. “We always had the dream of becoming more, becoming better”, rief Bhandula. “In this moment every struggle we were going throuh was fuckin’ worth it”, bekundete er seine Freude. Gitarrist Karan Katiyar griff zwischendurch immer wieder zur Flöte und die Kombination aus hartem Metal und Flötentönen ist ein Sounderlebnis, das man unbedingt einmal selbst erleben muss. Bands wie ELUVEITE und ARKONA haben das auch schon längst für sich entdeckt. Nach den Hits “Machi Bhasad (Expect A Riot” und “Ari Ari”, bei denen Bhandula sich auch in den Graben zu den Leuten begab, mussten die Inder leider schon wieder von der Bühne gehen. Da sie mit ihren emotionalen Ansagen die Zeit leicht überzogen hatten, wurde von der Bühnentechnik nicht einmal ein Abschlussfoto gewährt. Eine strenge Entscheidung und sehr schade, schließlich ist sowas für kleine Bands durchaus wichtig.
Fotos: Andreas Theisinger
Für wen die Härte von BLOODYWOOD genau richtig gewesen war, der musste sich keinen Millimeter weit wegbewegen, schließlich spielten direkt im Anschluss LORNA SHORE aus Amerika. Die Deathcoreler veröffentlichen am 14. Oktober ihr neues Album “Pain Remains” und das Summer Breeze war natürlich die ideale Bühne, um die neuen Songs schon einmal im Livebetrieb zu testen. Unter anderem die Single “Cursed To Die” kam sehr gut an und die Ticketverkäufe für die anstehende Nordamerika-Tour laufen, anders als bei vielen anderen Bands, sehr gut an. Auch bei älteren Songs wie “To The Hellfire” beantworteten LORNA SHORE die Frage, wieso sie als neue Institution in Sachen Core gelten.
Fotos: Andreas Theisinger
VENDED hatte uns bereits auf Wacken gezeigt, welch Geistes Kinder sie sind. Die biologische Verwandtschaft von Sänger und Drummer zu SLIPKNOT sollte hingegen nicht mehr thematisiert werden müssen. Die jungen Musiker wollen an ihren eigenen musikalischen Leistungen gemessen werden, ohne ständig mit ihren Vätern assoziiert zu werden. Dies ist vollkommen legitim. VENDED ist schließlich eigenständig. Es gab Starthilfe seitens der Väter, das steht außer Frage, z.B. indem VENDED als Support mit auf Tour gehen konnte. Aber eben nicht beim Songwriting oder im Prozess der Entstehung der Musik. Die Jungs haben das alles selbst gelernt. In der Metal-Szene wirst du ohne eigene Leistung ohnehin nicht weit kommen, so what? Mit Kriegsbemalung und freiem Oberkörper (Griffin) bzw. Maske (Jeremiah Pugh, Bass) ließen VENDED ihren apokalyptisch-harten Sound auf die Menge los und spielten hauptsächlich Songs aus der EP “What Is It//Kill It” ,u.a. auch die aktuelle Single “Ded To Me”. Ein vielversprechender Auftritt für die Band aus Iowa.
Fotos: Mirco Wenzel
Es schien eine Absprache zu geben, den Morgen beim Breeze immer mit ordentlich Core vollzupumpen, denn nun konnte man sich COMEBACK KID auf der Main Stage anschauen. Es handelt sich hier um Winnipeg-Kids, nicht zu verwechseln mit den kurz danach spielendem OKLAHOMA KID. Eine Menge “Kinder” unterwegs auf dem Summer Breeze… Das COMEBACK KID ist allerdings schon 20 Jahre alt und spielte einiges aus dem neuen Album “Heavy Steps” (zum Beispiel den Titelsong), sowie ausgewählte ältere Werke. Gitarrist Jeremy Hiebert machte mit einem entsprechenden Schriftzug auf seine vegane Lebensweise aufmerksam.
Fotos: Andreas Theisinger
ORDEN OGAN begannen ihr Set um 15 Uhr und noch etwas setzte ein: REGEN. Es war also gewissermaßen ein Co-Headline-Set zwischen der Band aus dem Sauerland und REGEN. Landwirte, Biologen, Metereologen… sie alle dürften gejubelt haben, als der Himmel seine Schleusen öffnete. Nur die Summer Breeze-Besucher suchten hektisch nach ihren Ponchos und manch einer warf einen Blick auf seine Turnschuhe, dann auf das Gelände und wägte ab, ob das gutgehen würde. Nun ja, vielleicht war es ja nur ein kurzer Schauer. Die Band ließ sich nicht beirren und spielte “F.E.V.E.R” und dann mit “In The Dawn Of The AI” einen der neuen Songs vom Album “Final Days”. Wie der Name schon sagt, beschäftigt es sich mit der eher düsteren Zukunft der Menschheit in den letzten Tagen. ORDEN OGAN haben eine ungefähre Vorstellung davon, was uns letztendlich zu Fall bringen wird – die ach so tolle, fortschrittliche Technik. Es ist ungewöhnlich, dass sich eine Power-Metal-Band solch moderner Thematiken annimmt, aber die Monster, die es heutzutage zu bekämpfen gilt, haben nunmal keine Schuppen mehr, sondern eher Schaltkreise und Algorithmen. Bei “Inferno” hatte der Regen zwar immer noch nicht aufgehört, aber die beponchote Menge war trotzdem willens, ordentlich mitzuarbeiten. Und – oh Wunder – sogar die gedankliche Transferleistung gelang, dass die Menge nur bei der Vorlage von Bassist Steven auf “Burn it down!” mit “BURN!” antworten sollte, nicht jedoch bei Sänger Seeb Levermann. Nach drei Durchgängen klappte das – im Gegensatz zu Wacken. Auch das Mitsingen des Refrains von “Gunman” gelang. Was für ein Ohrwurm! “Wie geht es euch in eurer Dusche?”, frage Seeb. Der Regen hielt hartnäckig an. Aber die Menge feierte trotzdem und auch bei “The Things We Believe In” wurde eifrig skandiert “Cold, dead and gone”. Wenn man eh schon nass ist, macht es einem irgendwann nichts mehr aus und man rockt einfach noch härter. Regenkonzerte bleiben besonders in Erinnerung. Man misst sich mit der Natur und in Sachen Widerstandskraft kann man hier ausnahmsweise auch mal gewinnen. Und den Stolz darüber, trotz Starkregens durchzuhalten, setzt man gleich wieder in Energie um und gibt alles. So geschah es auch bei diesem ORDEN OGAN-Konzert.
Fotos: Andreas Theisinger und Mirco Wenzel
Danach allerdings wurde es Zeit für Kaffee im Pressezelt und eine ausgiebige Pause. Es gewitterte munter vor sich hin und regnete weiter. Als wir um kurz vor 19 Uhr wieder die Nase rausstreckten, war das Gelände zu einem einzigen Schlammsee geworden. Hier war dann endgültig der Todesstoß für alle Turnschuhträger erreicht. Die findigen Geschäftsleute vom Piercing-Zelt hatten direkt jemanden zum Bauhaus geschickt und säckeweise Gummistiefel rangekarrt. Diese wurden neben den Ponchos in kürzester Zeit zum beliebtesten Artikel. Wer Stiefel hatte, konnte sich durch den ganzen Matsch hindurch der Main Stage nähern und ALESTORM bei ihrer Gummientenschlacht begleiten. Uns zog es eher zur T-Stage, um JINJER zu sehen. Die ukrainische Band war in kürzester Zeit durch die verheerende Situation in ihrem Heimatland zum Botschafter für den Frieden avanciert. Viele Bands nutzten ihre Reichweite, um Awareness und Support für die Menschen in der Ukraine zu zeigen, aber natürlich ist es nochmal etwas anderes, wenn es direkt Betroffene tun. Das Set begann mit “Teacher Teacher”. “Thank you for all the support. Fuck the war!”, bezog Sängerin Tatiana direkt Stellung. Wann immer in den Ansagen der Krieg thematisiert wurde, gab es lautstarke Reaktionen des Publikums, auch ukrainische Flaggen konnte man etliche sehen. Musikalisch wurde vor allem das 2021er Album “Wallflowers” gespielt.
Fotos: Mirco Wenzel
Nach dem Ende von ALESTORM hatte ich es irgendwie auf einen Platz in der Mitte der 1. Reihe vor der Main Stage geschafft. Die Klamotten waren während der Pause natürlich nicht trocken geworden und auch der Regen hielt weiterhin an, er sollte uns bis zum letzten Konzert auch nicht mehr verlassen. Bei ALESTORM war ganz offenbar kräftig gemosht und sogar im Schlammsee sitzend “gerudert” worden, jedenfalls wies der Verdreckungsgrad vieler Besucher darauf hin. WITHIN TEMPTATION sind für aufwändige Bühnenaufbauten bekannt und so wurde auch hier wieder die Dreiviertelstunde benötigt, um die zahlreichen Podeste, Lichtanlagen und eine ca. vier Meter hohe Metallmaske aufzubauen. Und schon ertönte das epische Intro zu “The Reckoning”, wie geschaffen als Einlaufmusik für Titanen des Symphonic Metals. Sharon den Adel erschien mit goldmetallischem Oberteil und einer Krone aus Metallspitzen, letztere legte sie allerdings beim Folgesong “Paradise (What About Us?)” direkt wieder ab. Sie braucht keine Krone, sie ist die Königin der Bühne – so oder so. Das Duett mit Tarja Turunen wurde mangels Anwesenheit der Finnin über die LED-Videowand im Hintergrund geführt. “The Unforgiving” ist mittlerweile elf Jahre alt. Als nun “In The Middle Of The Night” gespielt wurde, erinnerte ich mich gut, dass es das erste Album war, das ich digital erworben und auf meinem Handy gespeichert hatte. Seitdem ist viel passiert, aber die Liebe zu WITHIN TEMPTATION und ihrer großartigen Musik ist geblieben. Ein Konzert der niederländischen Band ist immer ein Feuerwerk der Gefühle und dass so viel von der Spielfreude und den großen Gefühlen, die auf der Bühne erzeugt werden, beim weit hinter dem Graben im Regen kauernden Publikum ankommt, das liegt an der Verwendung des leitfähigsten aller Materiale: “Denadelum”. Sharon den Adel ist einfach ECHT. Sie zeigt ihre Freude, sie zeigt ihre Trauer, sie ist unpretentiös und weit davon entfernt, eine typische Symphonic Metal-Diva zu sein. Sie steht einfach da, von Flammen der Pyrotechnik umtost und singt sich die Seele aus dem Leib. Das uralte “Stand My Ground” wurde derweil vom neueren “The Purge” abgelöst. Beim Intro von “Raise Your Banner” trug die Fronterin eine riesige Ukraine-Flagge auf die Bühne und schwenkte sie ausgiebig. Für “And We Run” musste wieder die Videowand als Duettpartner herhalten, aber das dritte Duett sah nun endlich auch mal einen Gastsänger in Fleisch und Blut: Christoph Wieczorek von ANNISOKAY sang gemeinsam mit Sharon “Shed My Skin” und spielte auch Gitarre dazu. Vorher bekundete Sharon ihr Unverständnis darüber, dass jungen Menschen oftmals immer noch versucht wird, einen bestimmten Lebensweg aufzuzwingen. “Everybody tells them what to do!”, bedauerte sie. “You are always the best version of yourself!”. Der damalige Keith und nunmehrige Mina Caputo hingegen durfte wieder nur als Pixelmensch singen und anklagen, was “du” nun jetzt wieder getan hattest. Aber bei WITHIN TEMPTATION war noch mehr drin, schließlich war man Tagesheadliner! Aber zwischendurch gab es technische Probleme und die überraschte Sängerin versuchte, die Pause stotternd zu überbrücken und lachte dann selbst über den gescheiterten Versuch, mit dem Publikum Smalltalk zu betreiben. Eine Band von Weltruhm auf der Bühne und die Sängerin kichert über sich selbst. Großartig! Als die Niederländer nach “Ice Queen” zunächst die Bühne verließen, teilte die riesige Maske auf der Bühne sich plötzlich und fuhr nach beiden Seiten auseinander. Dazu wurde das Intro von “Our Solemn Hour” gespielt und natürlich auch der Song selbst, mit dem die Band auf die Bühne zurückkehrte. Thematisch passend zum Song “Supernova” sah den Adel in den wolkenverhangenen Himmel und fragte: “Where are the stars?”, woraufhin es aus dem Publikum zurückschallte “You are the star!”. Die wundervolle Ballade “Stairway To The Skies” erzeugte Gänsehaut bei allen Anwesenden und der “Signature Song” von WITHIN TEMPTATION “Mother Earth” rundete einen wundervollen Auftritt ab, den der Regen nicht schmälern konnte. Einen kurzen Gedächtnisaussetzer leistete die Sängerin sich dann noch, als sie die Menge auf den Folgeact einschwören wollte: “There’s a wonderful band after us. Enjoy… uhm… LORD OF THE LOST”, vergaß sie mal eben die dazwischen noch spielenden AMORPHIS. Es sei ihr verziehen!
Fotos: Andreas Theisinger
Gab es heute schon Finnen im Line-up? 2D-TARJA zählt nicht! Da musste wohl AMORPHIS ran und die Ehre ihres Landes retten. Ich habe noch nie ein Konzert der Band gesehen, das mich enttäuscht hat. Man erinnere sich nur an die “Tales From The Thousand Lakes”-Show auf Wacken. Das Album gilt als Meilenstein und wird oft als maßgeblicher Einfluss zitiert. Der Gründer von ENISFERUM, Markus Toivonen, gibt sogar an, dass AMORPHIS der Hauptgrund sind, wieso er die Band überhaupt gegründet hat. Eine Band also, die der Grundstein war für etliche weitere und doch werden AMORPHIS meiner Meinung nach häufig unterschätzt. Ich hatte meinen perfekten Platz in der 1. Reihe jedenfalls nicht aufgegeben, sondern wollte die Finnen auch noch aus nächster Nähe sehen und hören. Das aktuelle Album “Halo” stand natürlich im Mittelpunkt des Sets und durfte auch gleich den Opener “Northwards” und den Folgesong “On The Dark Waters” beisteuern. Die Zuhörer, die bei WITHIN TEMPTATION noch ausgiebig auf und ab- gehüpft waren, suchten nun eine andere Art von Kraftquelle tief in ihrem Inneren, die nur von den Klängen von AMORPHIS eröffnet werden kann. Wie beim in Deutschland historisch nicht ganz korrekt verwendeten Begriff für “Damaszenerstahl”, entsteht die enorme Kraft der Musik von AMORPHIS erst durch das Verschweißen von harten und weichen “Schichten”. Tomi Joutsen wechselt wie selbstverständlich von gutturalem zu Klargesang und wieder zurück und seine Mannen treiben die mal langsamen, schwermütigen, mal wilden und schnellen Rhythmen vor sich her. “We will go now in the wrong direction”, kündete Joutsen den gleichnamigen Song vom äußerst erfolgreichen “Queen Of Time”-Album an. Hatten wir schon erwähnt, dass die Videoleinwand der beliebteste Duett-Partner auf dem Summer Breeze war? Auch AMORPHIS wollten den Sanges-Ambitionen der geltungssüchtigen Pixelpappe natürlich nicht im Wege stehen und kündigten an: “For the next song, we have a beautiful lady from Holland at the guest vocals. Unfortunately she’s not here…”. Die Leinwand-Anneke van Giersbergen lieferte aber auch eine respektable Performance für den Song “Amongst Stars” ab. Nun wurde es aber wieder Zeit für eine letzte Rückkehr zu den “1000 lakes”. Mit “Black Winter Day” strafte man den Sommerregen Lügen. “Thank you for coming”, bedankte sich der Sänger noch vor dem Schlusssong (“House Of Sleep”) bei den tapfer ausharrenden Durchnässten. “So nice to see, you’re still alive”. So, jetzt konnte ich endlich meine schmerzenden Füße in den Gummistiefeln ausruhen, etwas essen und…. Mooooment, war da nicht noch etwas?
Fotos: Mirco Wenzel
Es gab tatsächlich noch eine Band auf der Main Stage und zwar keine unbekannte: LORD OF THE LOST hatten den nächtlichen Slot um 1 Uhr nachts erwischt und ich zwang meine zahlreichen protestierenden Körperteile dazu, zu verstummen und sich ganz der Leidenschaft der Musik hinzugeben. Mein Gehirn gab mir deutlich zu verstehen, dass es nicht mehr lange stillhalten und zeitnah damit beginnen wollte, die körpereigenen Energien und Baustoffe dazu zu verwenden, Kiemen auszubilden, um sich der neuen, nassen Umgebung anzupassen. Dafür drohte es an, weniger genutzte Fähigkeiten aus dem Repertoire zu streichen, als da wären Rhetorik, Norwegisch, Ausdruckstanz, Rankenhieb, Ruckzuckhieb und Solarstrahl. Das Verlernen dieser Dinge, so führte es mit der bereits schwindenden Rhetorik aus, würde vielleicht genug Ressourcen freischaufeln, um auch noch eine Braunfärbung der Haut vorzunehmen, um im neuen Lebensraum perfekt getarnt zu sein. “Nur noch eine Band, bitte!”, flehte ich das innere Tribunal an. “LORD OF THE LOST sind großartig, das hat sich bis jetzt immer gelohnt und wir stehen hier seit vier Stunden. Eine weitere schaffst du noch, du nutzloses Wrack!”. Mein Gehirn sah mich böse an und zog sich schmollend zurück, um die Texte von “Full Metal Whore” und “Six Feet Underground” rauszukramen. Zufrieden mit meinem Zwischensieg konzentrierte ich mich wieder auf das Bühnengeschehen, wo mittlerweile ein großes Banner verkündete, wer gleich die Herrschaft übernehmen würde. Und auch die Trommelfelle der Base zierte der LOtL-Schriftzug, was insofern bemerkenswert war, als dass auffällig viele Bands vorher mit “Summer Breeze”-gebrandeten Basedrums gespielt hatten. Nicht alle waren indes so standhaft, die Menge vor der Bühne hatte sich etwas ausgedünnt, einige waren nach Hause geschwommen oder waren in den Mangrovenwäldern, die mittlerweile auf dem Infield gewachsen waren, auf die Jagd nach ihrem Abendessen gegangen. LORD OF THE LOST begannen fulminant mit “Drag Me To Hell”, einem Everblack aus ihrem Repertoire. Die Mädchen neben mir, die vorher noch gestritten hatten, ob Chris oder Gared heißer seien, sangen fleißig mit und ließen die klitschnassen Haare kreisen. Meine Arme waren wegen der anstehenden Kiemenbildung schon etwas schwach, aber ich gab mein bestes, um im Takt zu zucken. “Born With A Broken Heart” vom aktuellen Album “Judas” war in diesem Jahr fest ins Live-Repertoire aufgerückt und begeisterte auch in Dinkelsbühl. Und dann geschah es: DER REGEN HÖRTE AUF!! Zum ersten Mal seit zehn Stunden fiel kein Wasser mehr vom Himmel. Chris Harms wollte das natürlich gleich als persönlichen Sieg verbuchen: “Freunde, wir haben den Regen besiegt!”, rief er enthusiastisch. Mein Gehirn gab die semi-aquatische Umbildung seufzend auf und gestand mir wieder etwas mehr Armenergie zu, die ich bei “Full Metal Whore” auch gebrauchen konnte. Das einzige Cover im Set nahm Bezug auf die gerade absolvierte, legendäre Tour mit IRON MAIDEN: “Children Of The Dark” passte zum mondlosen Nachthimmel. Mit “Ruins” setzte man auch mir und meinem Körper noch ein Denkmal, herzlichen Dank dafür. “Freunde, wir haben euch so vermisst!”, rief der Fronter kurze Zeit später. “Danke, dass ihr hier seid, zu solch später Stunde”. Das Finale bestand aus “Loreley”, dem inoffiziell als “Dödödöpdöpdöpdödödödödöpdödop” bekannten “Blood For Blood” und natürlich “La Bomba”. Chris’ leuchtende Gitarre kam auch zum Einsatz, immer ein Highlight bei Nachtkonzerten.
Danke, Körper, dass du den Dreierblock aus WITHIN TEMPTATION, AMORPHIS und LORD OF THE LOST durchgezogen und mir unvergessliche Festivalerinnerungen im Regen beschwert hast. Nun wurde es aber Zeit für die spannende Frage, ob die Füße sich überhaupt noch aus den Gummistiefeln würden lösen lassen.