WACKEN IS BACK! Faster, Harder, Louder 2022 – Tag 1 (Wacken Wednesday)

Angenommen, ihr habt voller Vorfreude eine Feuerwerksbatterie aufgebaut. Es ist eine schöne, große Kiste mit zahlreichen Mündungsöffnungen im Deckel und auf der Verpackung sind allerhand Verheißungen abgedruckt, es soll ein Feuerwerk der Superlative werden. 13 Farben, Sterne, Glitter und Brimborium. Das Ding war scheiße teuer, aber es gibt einen besonderen Anlass und ihr wollt den Himmel dafür in Stücke sprengen und im Funkenregen tanzen… Ihr zündet die Zündschnur an und… es passiert ÜBERHAUPT NICHTS. Wir Festivalgänger standen die letzten zweieinhalb Jahre vor der bunt bedruckten Kiste und starrten auf die Trümmer unserer Träume.
ABER JETZT… zweieinhalb Jahre später, geht das Ding endlich los und es wird geiler, als ihr je erhofft hättet. Das ist Wacken 2022. Doch was bleibt, wenn der Rauch sich verzogen und die Sterne verblüht sind? Brandgeruch und Fetzen. Dieses Wacken war beides: Eine Explosion der Freude und ein Haufen faseriger Fetzen, durchweicht vom Morgentau an Neujahr, die man grummelnd von der Straße kratzen muss. Bändchenschlange! Boom! Was sich anhört wie eine freudige Neuentdeckung für holsteinische Herpetologen, ist in Wirklichkeit ein Synonym für die Hölle, die viele Wacken-Besucher am Mittwoch erleben mussten. Niemand von uns Frühangereisten hatte diese Probleme, aber wenn man Social Media aufmerksam verfolgte, konnte man zahlreiche Erfahrungsberichte von “Überlebenden” lesen, die es gewagt hatten, den Mittwoch als Anreisetag zu wählen.

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Fotos: Kristina Meintrup

Doch der Reihe nach… wenige Wochen vor Wacken hatten die Festivalveranstalter eine große Ankündigung zu machen, die nichts mit dem Line-up zu tun hatte: Ein Cashless Payment-System sollte eingeführt werden und zwar konsequent. Zwei Jahre vor der Pandemie war schon einmal ein ähnlicher Versuch mit der sog. „Wacken Card“ absolviert worden, der mir persönlich nicht in guter Erinnerung geblieben ist. Oft hieß es damals an den Ständen „Nee, die Karte nehmen wir nicht“ oder aber „Normalerweise nehmen wir die Karte, aber wir haben gerade technische Probleme“. Dementsprechend skeptisch waren die Reaktionen im Vorfeld auf diese Ankündigung gewesen. Das diesjährige System sollte mit einem in das Festivalbändchen integrierten RFID-Chip realisiert werden und dieser Chip sollte wirklich auf dem gesamten Gelände als alleiniges Zahlungsmittel akzeptiert werden. Man konnte auch bereits vorab sein Ticket mit einem Online-Account verknüpfen und Guthaben aufladen, ebenso sollte es an sogenannten „Top-up-Stationen“ auf dem Gelände ermöglicht werden. Allen Unkenrufen zum Trotz erwies sich das diesjährige System als äußert leistungsfähig. Das bedeutete natürlich nicht, dass es immer reibungslos funktioniert hat. Es gab vereinzelte Meldungen über vorab aufgeladenes Guthaben, das nicht direkt ersichtlich, ergo nutzbar war. Aber alles in allem und auch nach meinen persönlichen Erfahrungen funktionierte das Bezahlen an allen Stellen sehr gut und auch das „Top-Uppen“ war unkompliziert und schnell. Man musste keine Geldbörsen mehr mitnehmen und das ist wirklich ein großer Vorteil. Ich nehme an, dass das System auch für die nächsten Jahre übernommen wird. Nun aber zu einem großen Problem: Das Chip-Bändchen ist wirklich die einzige Zahlungsmöglichkeit vor Ort. Kein Bändchen heißt also: Kein Erwerb von Speisen oder Getränken. Was aber, wenn die Schlange zum Ergattern des Bändchens sehr lang ist und wir 30° Celsius haben? So geschehen fast den gesamten Mittwoch über. Die Wartenden waren auch relativ weit von den Trinkwasserentnahmestellen (diese waren kostenlos) entfernt. Wer in der glutheißen Bändchenschlange stand, war aber immerhin schonmal auf dem Gelände. Zudem gab es dieses Jahr eine Kooperation mit dem Mineralwasserhersteller Gerolsteiner, der kostenlose Wasserflaschen verteilte. Leider reichte aber auch der Autostau vor den Zufahrten kilometerweit ins Umland hinein. Wenn man nun mehrere Stunden zunächst mit dem Auto im Stau stand und dann noch fast ebenso lange in der Schlange vor den Bändchenausgaben, war der Tag praktisch vorbei. Nun war es aber so, dass der Wacken-Mittwoch in 2022 zum ersten Mal ein eigenes Musikprogramm auf dem Infield, genauer gesagt der Louder Stage, angeboten hatte. Und dieses Zusatzprogramm kostete auch weitere 66 Euro, wofür man ein weiteres Bändchen erhielt. All diese Faktoren führten dazu, dass Wacken-Wednesday-Bucher, die in die erwähnten Schwierigkeiten bei der Anreise gerieten, unter Umständen das bezahlte Zusatzprogramm gar nicht wahrnehmen konnten. Metaller sind ein höfliches Völkchen, aber sie erwarten auch offene und ehrliche Kommunikation und Support. Daher wurden auch Stimmen laut, die eine Erstattung des Zusatzbeitrages verlangten. Die Wacken Orga bemühte sich indes um Schadensbegrenzung und räumte durchaus Fehlplanungen ein, informierte auf Social Media immer über den aktuellen Stand und warb um Verständnis, das nicht jeder aufbringen konnte oder wollte. Das kennen wir von der Deutschen Bahn. However, Wacken ist als äußerst erfahrenes und professionelles Festival bekannt, man kann für die nächsten Jahre fest von einer für die Besucher angenehmeren Organisation der Personalbesetzung an den Bändchenschaltern ausgehen. Doch der Personalmangel betrifft die gesamte Branche, dafür kann Wacken nichts. Und man muss wirklich noch einmal sagen: Sobald man sein Bändchen hatte, konnte man sehr komfortabel und angenehm überall bezahlen. Die Servicekräfte zeigten einem stets den abgebuchten Betrag und man konnte auch jederzeit das verbliebene Guthaben erfragen. Pfand wurde ebenfalls zurück auf den Chip gebucht, in Sekundenschnelle und problemlos. Wirklich eine großartige Neuerung! Am Campground war indes auch einiges umgestellt worden, was die armen Konservativen in Bedrängnis brachte. Heiteres Buchstabenraten begann, als klar wurde, dass Campground „A“ jetzt „P“ hieß und „Y“ wurde zu „N“. Nunja, die grünen Wiesen des „Holy Lands“ waren dennoch die selben und nachdem man sein Domizil auf Zeit aufgebaut hatte, wurde es Zeit für das erste Bier. Doch auch hier: Veränderungen, auf die man sich wohl oder übel einlassen musste. Das jahrelang etablierte Becks war durch Krombacher ersetzt worden. „Zu süß“, lautete das Urteil eines Besuchers. Aber gut, beim Bier scheiden sich die Geister dermaßen, dass man es auf keinen Fall allen rechtmachen kann. Und Krombacher ist nun wirklich ein Bier, was auf allgemeine Akzeptanz in Deutschland bauen darf. Zur Not gibt es ja im Dorf auch noch die Wacken-Brauerei, wenn man mit dem Standard nicht leben konnte. Es gab also einiges, das neu war, aber was war eigentlich gleichgeblieben? Es stellte sich alles in allem schnell das unverwechselbare Wacken-Gefühl ein, weshalb ich persönlich dem Festival nun schon zwölf Jahre treu verhaftet bleibe. Man kann gar nicht genau benennen, was es denn nun ist, was die Essenz von Wacken ausmacht. Die schiere Größe? Die Bühnenanlagen mit dem besten Sounderlebnis unserer Zeit? Die hohe Internationalität der Besucher? Es ist vermutlich alles zusammen, das dazu führt, dass man sich nirgendwo so wohlfühlt wie in Wacken. Wer montags anreist, hat erst einmal nicht so viel zu tun und kann sich in Ruhe in diesen Ort einleben, der einem eine ganze Woche als Heimstatt dienen soll. Die Impressionen aufsaugen, sich freuen, in Wacken zu sein… aber es wird auch für Frühangereiste schon einiges geboten. Die Wasteland-Stage war bereits geöffnet, ebenso die neuen Stages „Welcome to the Jungle“ sowie „LGH Clubstage“ (Landgasthof Wacken). Die meisten Besucher kommen wie gesagt mittwochs, man hat also viel Zeit, bereits Konzerte zu besuchen, ohne in Menschenmassen unterzugehen. Sehr zu empfehlen ist an den frühen Tagen auch stets ein Besuch im örtlichen Freibad (erreichbar mit dem „Pool-Shuttle“-Bus). Und man kann seine Zeltnachbarn kennenlernen, was auf Wacken niemandem schwerfällt. Denn schon beim Aufbau werden munter Hammer, Hering und Muskelkraft geteilt, es gibt hier keine Berührungsängste, denn man fühlt sich hier über die Musik und die Szene verbunden. Wer kein Zusatzticket bekam, konnte auf den genannten Stages die WACKEN FIREFIGHTERS bewundern oder auch Acts wie BLAAS OF GLORY , MAMBO KURT oder MR. IRISH BASTARD. Letztere spielten nachmittags auf der Wackinger-Stage auf und versetzten das Publikum in irische Verzückung und in Tanzlaune- trotz der Hitze.

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Fotos: Kristina Meintrup & Dirk Jacobs

Wacken-Wednesday

Bandauftritte am Mittwoch auf dem Infield, also auf einer der Hauptbühnen! Das gab es noch nie. Für den sogenannten „Wacken-Wednesday“ wurden wie gesagt Zusatztickets verkauft. Man konnte aber stattdessen auch das übrige Programm auf den kleineren Bühnen W.E.T. , Headbanger oder Wackinger-Stage wahrnehmen, wenn man nicht extra bezahlen wollte. Das Ganze darf als Testlauf verstanden werden, denn ab 2023 gibt es eine weitere große Neuerung: Die Ausweitung des WOA-Festivals auf VIER Tage, der Mittwoch wird dann fest in die Tickets integriert werden. Die erste Band auf der Louder-Stage war VARANG NORD. Die lettische Folk-/Viking-Truppe eröffnete um 14:30 Uhr das Hauptprogramm. Es war noch nicht wirklich voll, aber das sollte sich im Laufe des Abends noch ändern. Als zweites spielten die BROTHERS OF METAL und schlossen sich an die Letten thematisch nahtlos an. Auch hier steht die nordische Mythologie im Vordergrund. Nach dem überraschenden Charterfolg vom 2020er Silberling „Emblas Saga“ hatte die junge Truppe aus Schweden sich einen Namen gemacht. Und der lautete nicht Kai-Uwe. Beim WOA standen aber die Songs des Debutwerkes „Prophecy of Ragnarök“ im Vordergrund und machten gut zwei Drittel der Setlist aus. Was völlig legitim ist, schließlich hatten diese Songs bei der Veröffentlichung wenig Aufmerksamkeit erhalten. Aber auch die ein oder andere „Emblas“-Perle wie „Brothers Unite“ oder „Powersnake“ wurde auf dem Holy Ground zelebriert. Man kann sich fragen, ob wir wirklich noch so eine „Wikingerband“ brauchen, Man kann sich aber auch einfach die beiden Platten von BROTHERS OF METAL anhören und erkennen, dass hier wirklich besondere Qualität abgeliefert wird. Die Wacken-Ausgabe 2023 wird übrigens ein Wikinger-Thema haben, hier konnte man also schon einmal in die Thematik hineinschnuppern, wenn man AMON AMARTH und Co. bislang nicht zugeneigt war und auch die Serie “Vikings” boykottiert hatte.
Nun sollte es allerdings Schwierigkeiten geben. GLORYHAMMER waren als nächstes angekündigt und hier waren viele auf die Live-Performance des neuen Sängers Sozos Michael gespannt. Die Entlassung des beliebten Vorgängers Thomas Laszlo Winkler hatte zu viel Aufregung und sehr negativen Reaktionen in der Fanbase geführt. Es stand vielfach die Frage im Raum, ob Winkler und seine Figur Angus McFife wirklich ersetzbar waren. Auf Wacken standen nun die vielen Fans mit aufblasbaren Schwertern und Einhörnern bereit, um eine GLORYHAMMER-Party zu feiern. Doch der Gastgeber fehlte. Wie man später erfuhr, war die Band in das Flugchaos geraten. Eurowings hatte den Flug von London gecancelt und die Band musste den ganzen Weg nach Birmingham fahren, um einen Ersatzflug nach Düsseldorf zu erwischen, dann folgte eine Zugfahrt und dann das letzte Stück wurde die Band noch von der Polizei aufgehalten. Alles in allem reichte es dann noch für vier Songs der Briten. „Hootsforce“ und „Universe On Fire“ wurden performt, ebenso „Angus McFife“ und „The Unicorn Invasion Of Dundee“. Leider wirkte Michael oft unsicher und war bei den Strophen kaum zu hören. Die Enttäuschung der Fans war hör- und spürbar, aber die Band hat wirklich alles gegeben. Es wird sicherlich ein Comeback in Wacken geben.

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Fotos: Kristina Meintrup & Dirk Jacobs

Mittlerweile war der Platz vor der Bühne gut gefüllt, denn man erwartete nun den Co-Headliner EPICA. Simone Simons und ihre Mitstreiter traten zum vierten Mal auf dem Wacken Open Air auf. Manche Bands haben den zweifelhaften Ruf, eine sogenannte „Liveband“ zu sein, also live on stage besonders zu überzeugen, was aber dann die Frage aufwirft, ob sie es etwa nicht schaffen, diese Energie auch auf den Alben rüberzubringen. Dass man auch beides können kann: Live abräumen und aus der Konserve überzeugen, beweisen die Niederländer, die nun die Bretter betraten. Schon beim Aufbau konnte man erkennen, dass das Bühnendesign, das jetzt etliche Jahre lang verwendet worden war, ausgetauscht wurde. Riesige Metallschlangen, ähnlich aufgerichteter Kobras wurden an den Seiten der Bühne errichtet, aus den geöffneten Mäulern ragten verheißungsvolle Pyro-Mündungen. Auch die Mikrofonständer waren vom geschwungen-runden Design der letzten Jahre hin zu einem neuen, kantigeren Stil entwickelt worden. Nach dem Intro begann das Set schwungvoll mit „Abyss Of Time“, dem perfekten Opener von „Omega“. EPICA sind bekannt dafür, einen besonders gravitätischen Symphonic Metal zu erschaffen. Das ist keine leichte Kost, kein „Operngedudel“, das man mal eben mitnehmen kann. Das Kaninchenloch, das in die Welt von EPICA führt ist schmal und voller Wurzelstränge. Man muss sich auf diese Art von Musik schon einlassen. Aber gut, das gilt vor allem für die stille Kammer, wenn man sich auch textlich mit der Band beschäftigen möchte. Live kann man auch einfach die bombastische Wucht und ja – Epicness – genießen. Nomen est omen!
Die Verheiratung von Metal und Sinfonie war schon immer eine besondere Verbindung mit Suchtpotenzial. EPICA ist zwar textlich und musikalisch nicht niederschwellig, wie eben erwähnt, aber dafür bieten die vielen gegrowlten Passagen von Gitarrist Mark Jansen den Extreme Metalern einen besseren „Übergang“. Man könnte also sagen: EPICA ist das Fleischersatzprodukt der Metalwelt für einen sanften Einstieg der Neu-Veganer und ähnlich wie der Siegeszug der veganen Burger und Co. steigern die Niederländer sich immer weiter. Doch genug der Anpreisung, jetzt müssen wir eine Geschmacksprobe machen! Nach „Abyss Of Time“ gab es den „Plant-based Dreifach-Whopper“ aus den Hitschmiede „The Quantum Enigma“: Sowohl „Essence of Silence“ (das so gar nicht ruhig daherkommt) als auch „Victims Of Contingency“ und „Unchain Utopia“ schmeckten den Anwesenden vorzüglich. Die exquisite „Würztextur“ dieser All-Time-Favourites machte aus Nestlé-Ankerkraut (als Kooperationspartner auf dem WOA vertreten) billiges Unkrautgranulat. Nach einem weiteren „Omeganten“ namens „The Skeleton Key“ kündigte Simone den ältesten Epica-Song überhaupt an und forderte tatkräftiges Mitsingen ein. Wer kann dieser Frau etwas abschlagen? „Cry For The Moon“ wurde wie immer ein operesker und opulenter Zwischengang. Es war nicht zu beobachten, dass die Menge indes satter wurde. Man kann nicht genug von EPICA bekommen, daran änderte weder „Sancta Terra“ noch einer der vortrefflichsten Live-Songs „The Obsessive Devotion“ etwas. Aber nicht nur die Frontfrau glänzte durch Stimme und Performance. Besonders auch „Klassenclown” Coen wirbelte wie immer über die ganze Bühne und interagierte mit seinen Bandkollegen. Gekonnt wechselte er zwischen dem stationären und dem tragbaren (vor den Bauch geschnallten) Keyboard hin und her und auch Rob, Mark und Isaac standen kaum still. Arien wäre sicherlich auch gern mit seinen Mitstreitern umhergehüpft, aber er war natürlich unverzichtbar hinter der Drummachine. Er machte die mangelnde Bewegungsfreiheit aber durch Mimik und seine Haare wieder weg. Das ist Passion, Leute! So will man einen Drummer sehen: Wild und frei und als heimlichen Dirigent der Sterneküche für die Seele. Wer weiß, wann diesen vortrefflichen Musikern die Puste ausgehen würde, wenn man sie unbegrenzt spielen ließe? Hier entlädt sich schließlich die Freude mehrerer aufgestauter Jahre! Auf Festivals hingegen gibt es enge Zeitslots und das Schicksal der Kollegen von GLORYHAMMER diente als Mahnung, dass der Zeitplan nicht wie der der Deutschen Bahn eine unverbindliche Empfehlung darstellt. Nach „Beyond The Matrix“ und „Consign To Oblivion“ als süßes Dessert fiel der Vorhang auf der Louder Stage. Hier wird einem kein niedliches Cremeschälchen hingestellt, sondern hier fliegen die gezuckerten Kirschen wie Gewehrkugeln und man tut gut daran, sie mit dem Mund aufzufangen und zu genießen. Denn ob satt oder nicht, nun war Schluss. Mit EPICA, aber nicht mit der Epicness. Denn es gab da ja noch den Headliner…

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Fotos: Kristina Meintrup & Dirk Jacobs

AVANTASIA haben dieses Jahr ein beachtliches Pensum an Auftritten absolviert und sich den Ruf einer zuverlässigen „Feuerwehr“ für Festivals erworben, bei denen Bands kurzfristig ausfallen. Man sollte meinen, dass ein solch großes Ensemble recht schwerfällig und unflexibel in der Planung sei, aber weit gefehlt! „Rent a headliner“ with AVANTASIA! Ob MANOWAR in Barcelona wegen Differenzen mit den Veranstaltern nicht spielen oder ob WHITESNAKE krankheitsbedingt ausfallen und man die gesamte „Moonflower Society“ kurzfristig nach Bulgarien einfliegen muss – offenbar ruft man in diesen Tagen erstmal Tobias Sammet an, wenn irgendwer ausfällt und kann sich fast sicher sein, ein „Ja“ zu bekommen. Dieses außergewöhnliche Ensemble ist einfach dermaßen hungrig auf Auftritte und unvergleichlich passioniert. Der Auftritt auf Wacken war glücklicherweise längerfristig geplant, es war der fünfte für die Band an diesem Ort. Das neue Album trägt den Titel „A Paranormal Evening With The Moonflower Society“ und das könnte man eigentlich auch als Überschrift für jeden AVANTASIA-Auftritt nehmen. Es ist immer ein paranormaler Abend, egal ob es sich um eines der berühmten 3-Stunden-Konzerte handelt oder eben um Festivalshows. Zeremonienmeister Tobias Sammet schafft es, sich jeden Auftrittsort schon während der ersten Minuten zu eigen zu machen. Noch während der Vorhang oben war, skandierte die Menge „Tobi, Tobi, Tobi!“ und brachte so ihre Vorfreude auf Sammet und seine Truppe zum Ausdruck. Dann wurde die Bühne der Louder-Stage enthüllt und das Konzert begann mit „Twisted Mind“ vom „Scarecrow“-Album. „Wie lange hab ich mich darauf gefreut, das wieder zu sagen: Guten Abend, Wacken!“, rief Tobias Sammet nach dem Song enthusiastisch. „Wir reden heute nicht so viel“, versprach er dann und da durfte man schon skeptisch sein, schließlich ist der charismatische Fronter bekannt für seine ausschweifenden Zwischenreden. „Zweieinhalb Jahre im Keller sitzen waren genug!“, meinte er und stimmte den Folgesong „Reach Out For The Light“ an, wofür er Unterstützung von Ralf Scheepers (PRIMAL FEAR) am Mikro erhielt. Die Riege der AVANTASIA-Gastsänger erhält also wieder einmal Zuwachs. Scheepers wird auch auf dem neuen Album zu hören sein und zwar beim Song „The Wicked Rule The Night“, der auch gleich im Anschluss live gespielt wurde. Scheepers kann hier in schwindelerregende Tonhöhen vorstoßen und tat das natürlich virtuos. Tobias Sammet holt nur die Besten in seine Society und wer auf einer AVANTASIA-Platte dabei ist, hat gleichfalls den Ritterschlag erhalten. Der nun folgende Song wurde bisher bei jedem Wacken-Auftritt von AVANTASIA dargeboten, es handelt sich natürlich um „The Scarecrow“ mit dem ikonischen, unverwechselbaren Intro. Als Gastsänger fungierte wie auch schon auf der Platte Jørn Lande. Schön zu sehen, dass der Norweger es auch 14 Jahre später noch immer draufhat. Großartige Performance eines der bekanntesten AVANTASIA-Songs. Für den nächsten Song wurde es dann noch internationaler, als der US-Amerikaner Eric Martin“ die Bühne enterte, wie üblich mit seinem Schal. „Mr. Big himself“ ist seit dem „The Mystery Of Time“-Album an Bord der AVANTASIA und seitdem nicht mehr wegzudenken. Anders als die „mähnenschwenkenden Haudegen“, die Tobias Sammet sonst so an seiner Seite hat, ist Martin eher eine grazile Erscheinung und performt mit einer gewissen Leichtigkeit. Seine Weltklasse-Stimme verleiht „Dying For An Angel“ eine ganz besondere Note. Nach dem Song ging Tobias Sammet noch einmal auf die schwierigen Jahre der Pandemie ein. Er brauche normalerweise ca. drei Wochen, um ein Album zu schreiben, enthüllte er, aber in der Pandemie habe es zweieinhalb Jahre gedauert. Als er nun den nächsten Song ansagen wollte, stellt er fest, dass er die Setlist kaum lesen konnte. „I don’t have my reading glasses on. Who’s printed this fucking setlist?», fragte er. «Alter! Sieben Punkt? Kleiner gings nicht mehr? Es ist viel passiert in den letzten Jahren. Die Augen sind scheiße geworden und bei Olli geht „er“ nicht mehr hoch“. Pikante Details aus dem Leben von AVANTASIA. Ich hoffe, der Scherz auf Kosten von Gitarrist Oliver Hartmann war wirklich einer. Nun ja, aber es ist tatsächlich so, dass einige der Gastmusiker der Band mittlerweile ein beträchtliches Alter erreicht haben. Ronnie Aktins (PRETTY MAIDS) gehört mit 57 Jahren aber noch nicht dazu und rockte tadelos bei „Invoke The Machine“ und auch bei „Book Of Shallows“ mit. Letzterer enthält eine der eher seltenen Gelegenheiten, bei denen Background-Sängerin Adrienne Cowan mal nach vorne kommen darf. Atkins kündigte sie an als “fantastic female rock n’ roll monster from america“. Wieso, das wurde auch Neulingen schnell klar, als sie in der Mitte des Songs ein fantastisches Duett oder vielmehr Duell mit Atkins austrug und dabei zeigte, das sie neben dem Klargesang auch das Growling perfekt beherrscht. Wir haben hier eine ernstzunehmende Konkurrentin für Alissa White-Gluz gefunden. Der Growl-Part wird auf dem „Moonglow“-Album eigentlich von KREATOR-Sänger Mille Petrozza übernommen. Man muss an dieser Stelle kurz auf das besondere Verhältnis der beiden Bands eingehen, das mit der Geschichte des Wacken Open Air eng verwoben ist. In allen vier Jahren, die AVANTASIA bisher auf Wacken aufgetreten war, standen auch KREATOR im Line-up. 2008 spielten die Bands noch an verschiedenen Tagen und dürften sich kaum begegnet sein. Aber in den Jahren 2011, 2014 und 2017 war es jeweils so, dass die beiden Bands unmittelbar hintereinander auf je einer der beiden Hauptbühnen spielten. Wer Wacken nicht kennt, dem sei gesagt, dass die beiden größten Bühnen namens „Faster Stage“ (ehemals True Metal Stage) und „Harder Stage“ (ehemals Black Stage) direkt nebeneinander liegen und daher nur abwechselnd bespielt werden. Während auf der einen Stage eine Band spielt, wird auf der anderen aufgebaut, so gibt es im Hauptprogramm nur kurze Pausen für den Soundcheck. Da es neben und zwischen den Stages große Bildschirme gibt, kann man sich – wenn man bei einer „seiner“ Bands vorne stehen will – also ruhig schonmal vor die Faster Stage stellen und trotzdem das Konzert nebenan verfolgen. KREATOR und AVANTASIA liegen musikalisch aber soweit auseinander, dass viele KREATOR-Fans schwören, dass sie sie bei Sammets hohem Gesang instant Affenpocken bekommen, während das Geschrammel von Petrozzas Mannen für die meisten eher feinfühligen Avantasianer deutlich zu unmelodisch sein dürfte. Tobias Sammet, Entertainer vor dem Herrn, fing irgendwann an, die wartenden KREATOR-Fans vor der Nebenbühne anzusprechen und versuchte sie scherzhaft zum Mitmachen bei seinem eigenen Konzert zu animieren. Er bewegte sich sogar auf dem schmalen Steg, der beide Bühnen verbindet auf die andere Seite und forderte die KREATOR-Fans ironisch auf, ihm ihre Mittelfinger entgegenzustrecken. Dabei erzählte er immer wieder, dass er ja verstehe, dass die Thrash-Metal-Fans unter seinem viel zu klaren und hohen Gesang und den eingängigen Melodien seiner Band litten. Trotzdem versuchte er immer wieder gut gelaunt, diese Hälfte der Wacken-Gänger mitzunehmen und betonte auch des öfteren, dass die spielerische Konkurrenz wohl nur unter den Fans beider Lager zu finden sei und er selbst sich ja prächtig mit Mille Petrozza verstehen würde. Die Kooperation als Gastsänger bei „Moonglow“ dürfte wohl den endgültigen Beweis dafür liefern. Doch zurück aus der Mottenkiste in die Gegenwart. Auch beim 2022er-Wacken-Gig betonte Sammet die Eigenheit der Musik im Allgemeinen und des Metals im Besonderen, Menschen zu verbinden. Adrienne Cowan vertrat Mille bei den Growls jedenfalls mehr als würdig. Wer mehr von dieser phantastischen Sängerin sehen will, sollte sich einmal ihre eigene Band SEVEN SPIRES zu Gemüte führen. Da Michael Kiske und Kai Hansen leider bei diesem AVANTASIA-Auftritt nicht dabei waren, fehlte aus der „alten Garde“ eigentlich nur noch einer: Bob Catley. Der mittlerweile 74jährige Brite erschien für „The Story Ain’t Over“ auf der Bühne und strafte sein Alter Lügen. Rock und Metal erhalten die Flamme einfach ewig am Leben und seine Stimme ist nach wie vor outstanding. Für „Let The Storm Descend Upon You“ wurde mit Jørn Lande und Ronnie Atkins ein Doppelgeschütz aufgefahren und ein Song vom erfolgreichen 2016er-Album „Ghostlights“ präsentiert und zwar einer mit der beträchtlichen Länge von 12 Minuten. Epicness braucht eben Platz und wenn man ein Zwei-Stunden-Set bekommt, kann man sich solche Sachen durchaus erlauben. „I’m not leaving yet“, verkündete Lande nach Abschluss des Songs. „Ich bin hier. Alles klar, Herr Kommissar“, versuchte er sich an Deutsch. Dass der Norweger auf der Bühne blieb, war der Tatsache zu verdanken, dass er auch beim nachfolgenden Song „Promised Land“ die Vocals bestreiten durfte – an der Seite von Eric Martin (Lande: „I call him The Frisco Kid“). Und der Amerikaner blieb auch noch für den „Signature Track“ „Avantasia“ auf der Bühne, nachdem er bekannt hatte, dass er auch nach neun Jahren Erfahrung mit AVANTASIA diesen wichtigen Song natürlich nicht ohne seinen „Leader“ Tobias Sammet performen könne. Ist es nicht bemerkenswert, dass ein Weltstar wie Eric Martin sich genau wie die anderen Gastsänger ohne Allüren harmonisch in die AVANTASIA-Familie einfügt? Wo es doch in „normalen“ Bands mit vier, fünf Mitgliedern regelmäßig zu Line-up-Wechseln aufgrund musikalischer oder persönlicher Differenzen kommt? Sammet schafft es, diese Mega-Truppe zusammenzuhalten und jeden Einzelnen genug scheinen zu lassen, sodass er oder sie sich nicht benachteiligt fühlt. Das ist eine bemerkenswerte Leistung. Vielleicht sollte Tobias in die Außenpolitik gehen, auch wenn das die fragile „Moonflower“ seiner Kreativität vermutlich schnell verwelken lassen würde. Auf der Bühne sah man also nun die Zeitreise zurück zum allerersten Album „The Metal Opera Part 1“ in Form des Tracks „Avantasia“ und man verstand wieder, was für ein großartiges und einzigartiges Konzept diese Truppe konsequent seit über 20 Jahren verfolgt. Sammet hat aber auch einen Blick für die Mitwirkenden, die kein Instrument spielen oder singen. Zwischendurch stellte er den über die Bühne huschenden Fotographen Kevin Nixon vor. „Farewell“ war nicht der letzte Song, aber die Band konnte sich auf ein Meer aus wogenden Armen verlassen. Adrienne Cowan durfte hier erneut Duettpartnerin von Sammet sein und zeigte, dass sie auch einen wundervollen Klargesang draufhat. Der Ohrwurm wird sicherlich noch einige Zeit in den Ohren der Anwesenden nachgehallt haben, zudem das Publikum tatkräftig zum Mitsingen aufgefordert wurde und dem natürlich auch nachkam. Nach dem Song orderte der Fronter ein Bier, aber nicht für sich selbst, sondern für den Kameramann, der die Show für den Stream von Magenta Musik aufnahm. „You can drink it“, forderte er den überraschten Mitarbeiter auf. „You know, if they fire you, I’ll personally stand up for you, guy!». Für «Shelter From The Rain», kehrte Ralf Scheepers noch einmal zurück und auch Bob Catley durfte noch einmal seine Sangeskunst präsentieren, ebenso beim Folgesong „Mystery Of A Blood Red Rose“, mit dem AVANTASIA sich einst erfolglos für Deutschland für den Eurovision Song Contest beworben hatte. Der Song hatte damals trotzdem zahlreiche neue Fans für die Band gewonnen.
Die Zugabe gehörte dann ganz den „Hits“, zunächst dem einzigen Top-Ten-Hit von AVANTASIA „Lost In Space“. Ich erinnere mich gut daran, das Video damals, als ich die Band noch nicht kannte, auf MTV gesehen zu haben. Der Abschlusssong war natürlich das wie immer gesetzte „Sign of The Cross/The Seven Angels“ mit allen Sängern zusammen. Der opulente Schlussakkord beendete den Wacken Wednesday und das Programm auf der Louder Stage.

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Fotos: Kristina Meintrup & Dirk Jacobs

Im nächsten Jahr wird der Mittwoch fester Bestandteil des Programms sein, da Wacken auf vier Tage ausgedehnt wird. Daher war der extra gehaltene Mittwoch eine Ausnahme und die entsprechenden Shirts dazu heiß begehrt. Am nächsten Tag sollte dann das reguläre Wacken starten und mittlerweile hatten auch die Opfer der ewigen Bändchenschlange Erfolg gehabt, sodass der Run aufs Gelände am Donnerstag in voller Mannstärke erfolgen sollte. Doch dazu morgen mehr.

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Fotos: Kristina Meintrup
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