Review: Engelstrompeten & Teufelsposaunen – WELLE:ERDBALL blasen die 2. Welle weg

Engelstrompeten… das Wort weckte sofort Assoziationen an meine Kindheit. Diese großen Pflanzen wuchsen im Garten meiner Großmutter und die schimpfte regelmäßig, wenn deren riesige Blüten wieder einmal gestohlen worden waren, um daraus Rauschmittel zu gewinnen. Wie berauscht fühlt man sich übrigens auch, wenn man dieses phantastische neue Werk gehört hat.
Jeder WELLE:ERDBALL-Fan kennt den Intro Spruch “Hier spricht Welle:Erdball – Symphonie der Zeit” und dass die Band um den charismatischen Fronter Honey sich durchaus nicht scheut, symphonische Pfade zu beschreiten, war mit Ankündigung des diesjährigen Gothic meets Klassik-Festivals klar. Hier treten Szene-Bands seit acht Jahren in besonderem Rahmen auf -nämlich mit einem Sinfonieorchester. Dass das Festival leider im letzten Moment abgesagt werden musste, ist natürlich der 2. Welle geschuldet. Doch konzentrieren wir uns auf die dritte, die beständige Welle, die uns seit fast dreißig Jahren regelmäßig mitreißt und uns die Badeschlappen auszieht.

Ein komplettes Album mit Orchester – im neuen Jugendslang würde man das vielleicht als “boss move” bezeichnen. Die Ausnahmetruppe aus Berlin steht normalerweise unter dem Motto “Monoton & Minimal” und wusste bislang vor allem mit raffinierten Elektro-Tönen zu begeistern, die oft mit Hilfe von archaischen Apparaten wie dem Commodore C64 entstanden sind. Gerade deshalb ist die die neue Platte im wahrsten Sinne des Wortes ein Paukenschlag! Falls es in irgendeinem hinterletzten Winkel der Republik abwegigerweise noch immer einen unbelehrbaren Menschen gegeben haben sollte, der WELLE:ERDBALL musikalisch unterschätzt hat, dann wird er jetzt hoffentlich schweigen und dieses famose Werk erwerben.

Das Orchester unter der Leitung von Conrad Oleak macht die Songs nicht etwa besser, denn geniale kleine Meisterwerke waren sie schon immer. Aber man bekommt hier die Möglichkeit, das ein oder andere Kleinod nochmal neu zu entdecken und es macht wahrlich Freude, die Arrangements miteinander zu vergleichen. Wenn man etwa in der Setlist nach dem Opener “Funkbereit” und dem Evergreen “VW Käfer” (tolle Streicher!) auf das druckvolle “Mumien im Autokino” trifft, das maßgeblich von den namensgebenden Blasinstrumenten getragen wird. Orchester und Welle:Erdball blasen uns hier kräftig den Marsch und die opulente Atmosphäre ist wahrlich beeindruckend. Allgemein beschwört der Sound der gesamten Scheibe sehr viel cineastische Gefühle herauf. Filmmusik, Musical oder die typischen Tanzfilme der 20er – all das ist drin in diesem goldgefassten Füllhorn der Symphonie! Vertrautes reiht sich an Unvertrautes – “Deine Augen” fast so alt wie die Band selbst und doch völlig neugeboren wechselt sich mit dem neuen “Nur in meinem Traum” ab und lässt uns tatsächlich tagträumen. Was außerdem noch auffällt: Die Stimmen kommen in diesem warmen Nest aus Orchesterklang viel mehr zur Geltung, sodass man nicht nur bei Honey ganz neue Klangfacetten entdecken kann.

Wer erinnert sich noch an “Der Sinn des Lebens”? Keine Sorge, hier kommt eine Erinnerungshilfe der besonderen Art. Ganze vier Songs von diesem altertümlichen Werk finden sich auf “Engelstrompeten & Teufelsposaunen”, so auch neben dem sanft-schmeichelhaften “Gib mir mein Gefühl zurück”, das mit der kuriosen Mischung aus Orchester und verzerrtem Gesang aufwartet, der Klassiker “Arbeit adelt”. Und ja, dieses Lied funktioniert tatsächlich auch ohne eingedelltes Metallfass und Konfettistab (ich hatte auch meine Zweifel, aber die Pauke tut ihre Arbeit und wird somit geadelt!). Großartig!
Wie immer bei solchen Experimenten ist man gespannt, wie einzelne der bekannt-elektronischen Soundelemente wohl in Klassik übersetzt worden sind. So ging es mir besonders mit dem Intro von “Starfighter F-104G” (das hier allerdings “Starfighter F-104K” heißt). Die Übersetzung in Orchestermusik ist auch hier hervorragend gelungen und der Bombast sowie die Tragik des Songs ziehen ihre kometenhafte Bahn über den Seelenhimmel und setzen ihn in Flammen. Honeys Gesang ist in dieser Version noch lebendiger und noch schmerzhafter und kommt in verstärkt falcohafter Manier daher.

“1000 Engel” ist noch relativ neu… wollte ich gerade schreiben. Aber halt! 2015? Sapperlot, wie die Zeit vergeht. Fakt ist: Der Song ist vor allem ein Live-Highlight dank der großen aufblasbaren Engelsflügel der Protagonistin auf der Bühne. Dieses Bild aus glücklicheren Tagen, als wir noch die Konzerthallen stürmen konnten, springt augenblicklich auf die Netzhaut.
Endlich kann man als gepflegter Anhänger der Gothic-Szene in seinem Domizil sitzen, bei gedämpftem Licht und einem Glas Hochprozentigem in “Karl-Friedrich-Boerne-Manier” eine “Klassikplatte” auflegen und dabei trotzdem eine Band wie WELLE:ERDBALL feiern. Bei “Ich bin nicht von dieser Welt” wird natürlich lauthals mitgesungen. Mir ist, als würde der ungewohnte Klangteppich die Eingängigkeit der Nummer noch stärker in die Seele gravieren. “Ich will zurück auf meinen Stern und wir könnten wenn wir wollten längst dort sein”, solche Dinge denkt man in der Corona-Krise vermehrt, wenn man die fatalen Demonstrationen in Berlin und anderswo verfolgt.

Wie ein Endspurt fühlen sich die letzten drei Titel von “Engelstrompeten & Teufelsposaunen” indes nicht an. Mehr als würde man den letzten Schluck Wasser bei einer Wüstenwanderung aus der hohlen Hand schlürfen und verzweifelt nach den verrinnenden letzten Tropfen Ausschau halten. Der beliebte “Tanzpalast 2000”, noch älter als “Der Sinn des Lebens” war bislang auf dem neuen Werk sträflich unterrepräsentiert. Daher ist es nur folgerichtig, dass nun einer jener Titel folgt und zwar “Das muss Liebe sein”. Der Name ist durchaus Programm, denn jeder gebeutelte und virenmüde Ohrenzeuge denkt sich beim Anhören verzückt genau das! Dann folgt der schon erwähnte Hit “Arbeit adelt” und – durchaus thematisch nicht unpassend – klingt das ganze mit einem Tusch und “Die Computer verlassen diese Welt” aus. Mit schneidend scharfen Geigen und einer eindringlichen Warnung, die Möglichkeiten der modernen Technik nicht länger für unlautere Zwecke zu missbrauchen werden wir entlassen und klettern tief bewegt aus dem Orchestergraben.

Hat es diese CD gebraucht? JA VERDAMMT! Unsere Herzen müssen heilen und unsere Sehnsucht nach emotionalen Live-Events wird noch lange nicht gestillt werden. Wir brauchen einen Impfstoff gegen das langsame Absterben unserer nach Zerstreuung lechzenden Geister und WELLE:ERDBALL haben ihn.
Und so kann man nur mit dem ursprünglichen Zitat aus “A Clockwork Orange” schließen und sagen: “Kommt doch und hört mal meinen Sound! Hört Engelstrompeten & Teufelsposaunen, ihr seid eingeladen!” Bitte alle dieser Einladung folgen! Danke!

Bewertung: 10/10

TRACKLIST:

1. Funkbereit
2. VW Käfer
3. Mumien im Autokino
4. Deine Augen
5. Nur in meinem Traum
6. Gib mir mein Gefühl zurück
7. Starfighter F-104K
8. 1000 Engel
9. Ich bin nicht von dieser Welt
10. Das muss Liebe sein
11. Arbeit adelt
12. Die Computer verlassen diese Welt

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