Zulauf in der Menagerie des Grauens – UNZUCHT lassen neues Album auf uns los
“Jenseits dieser Welt bleibt dir noch etwas Zeit…” Uns hingegen bleibt keine Zeit mehr, denn heute ist Release-Day! Ein Tag, der für alle UNZUCHT-Fans schöner als Weihnachten ist. Der Kettenhund sollte nicht länger alleine sein und am Ende womöglich noch vereinsamen. Daher haben UNZUCHT aus reiner Tierliebe beschlossen, ihm einige Gefährten für das “Monsterfreilaufgehege” zu besorgen, zum Beispiel eine Panzerechse. Na dann hören wir doch mal rein:
Was liegt jenseits des Horizontes und dieser Welt?
Der Opener “Jenseits der Welt” wurde jüngst als dritte Single veröffentlicht, inklusive einem Video. Zusammen mit “Nein!” und “Misanthropia” bildet er einen schönen Querschnitt durch das neue Werk. Das Lied wird durch den melodischen Chorus geprägt und nimmt bereits während des Intros ordentlich Fahrt auf. Inhaltlich geht es darum, was hinter dem Horizont liegt und dass man den Mut haben sollte, dorthin aufzubrechen, um seinen Blickwinkel zu erweitern und neue Erfahrungen zu machen. De Clercq dominiert die harte Bridge und spricht sicher vielen Fans aus der Seele, die die Sehnsucht haben, aus ihrem unbefriedigenden Leben auszubrechen. UNZUCHT ermutigen uns dazu und sagen schlicht “You can do it!”.
“Ich und Du” – “Müllers Kuh” will man ergänzen, aber mit dem bekannten Schüttelreim hat der Song nichts zu tun, sondern das hier ist bitterer Ernst! Das Lied beginnt gar mit dem berühmten Zitat des englischen Dichters Dylan Thomas, das vielen aus dem Film “Interstellar” bekannt sein dürfte: “Geh nicht gelassen in die gute Nacht!”. Man kann hier eine Parallele zu den aktuellen politischen Ereignissen ziehen, so man den will. “Haben wir das nebenbei heraufbeschworen?”, fragen UNZUCHT. Eine legitime Frage, die wir uns hoffentlich später nicht stellen müssen, weil wir den Faschisten zuviel Boden überlassen haben. “Gewissheit ist ein leichter Weg, doch kalt der Wind, der auf ihm weht. Denn lässt man leise Zweifel zu, dann strauchelt man wie ich und du!”. UNZUCHT wird hier sehr philosophisch. Der Mensch sucht seit jeher nach dem leichtesten Weg, dem des geringsten Widerstands. Einfache “Wahrheiten” locken Tausende auf Abwege und jeder Guru vermittelt seinen Sektenmitgliedern diese scheinbaren simplen Gewissheiten darüber, wie die Welt funktioniert. Wir sollten es uns nicht so leicht machen und kritisch bleiben. Fakt ist jedenfalls auch: Es hängt an den ganz einfachen Leuten da draußen – Ich und du könnten vielleicht den Unterschied ausmachen, wenn man es optimistisch betrachten will.
Der Song mit dem schönen Titel “Sonnentod” beinhaltet die bewährte UNZUCHT-Mischung aus harten Strophen und weichem Refrain. Es ist immer wieder erstaunlich, welche emotionale Kraft die Stimme von Daniel Schulz entfaltet. Sie bildet einen Rettungsanker für alle Fans, die gerade eine schwere Zeit durchmachen. Das Versprechen, sie aufzufangen und ihnen beizustehen, tut sicherlich gut und man hört immer wieder, dass Musik vielen Menschen tatsächlich diesen Halt gibt.
Und mit diesen musikalischen Trostpflastern geht es auch weiter. Die Band aus Niedersachsen beweist sich einmal mehr als Schutzpatron aller Gebeutelten und Verzweifelten. Der Song “Horizont” versucht allen, die in traurigen Umständen leben und sich nicht von Belastendem freimachen können, Kraft zu verleihen. Fast schon sch(n)ulzig kommt diese Ballade daher und vermittelt die plakative Botschaft, dass man sich nicht an manchen Dingen abkämpfen, sondern im Zweifelsfall einfach weiterziehen soll, an einen Ort, wo man mehr geschätzt wird und nicht täglich Federn lässt. Wem diese Töne deutlich zu soft waren, den rammt als nächstes ein akustischer Lastwagen mit Caliban-Frontmann Andy Dörner am Steuer. “Misanthropia” (Single Nummer 2) ist vor allem eins: aggressiv und bretthart! Hier werden auf der Live-Tour unter Garantie viele Haare fliegen. Misanthropie, die Abneigung vor der Nähe zu Menschen(ansammlungen) generell, ist ebenfalls vielen Fans bestens bekannt, zumindest Anflüge davon z.B. am Montagmorgen.
Hm… Uns wurden doch eigentlich Monster versprochen? Aber zunächst bekommen wir es mit einem “Chamäleon” zu tun, einem kuriosen, aber eher harmlosen Lebewesen. Es fällt allerdings schwer, den Titel in Bezug zum Text zu setzen. Er handelt von einem Menschen, der im Leben gescheitert und an den Umständen zerbrochen ist, sodass er womöglich Selbstmord begeht. Es finden sich Hinweise im Text, die auf Mobbing und psychische Beeinträchtigungen verweisen. Vielleicht ist hier der Bezug zu finden: Ein Chamäleon wechselt seine Farben und verschmilzt mit dem Hintergrund, um sich vor Feinden zu schützen. Aber was passiert, wenn diese Anpassung an das Leben nicht gelingt? Wenn man trotzdem zur Zielscheibe wird? Manch einer schafft es, diese “Anpassungsstörung” in etwas Positives umzumünzen, man kann zum Beispiel eine Rockband gründen und für seine eigenen Werte ein- und aufstehen 😉 Das ist dann jedenfalls ein sehr viel schönerer Ausgang als in dem Song beschrieben.
“Ich sage nein!” – und betrete das Monsterfreilaufgehege
Die Kraft des Wortes “Nein” haben auch BLUTENGEL unlängst schon auf ihrem Album “Leitbild” entdeckt. Doch was ist hier los? Sind wir jetzt alle anti geworden? UNZUCHT positionieren sich mit Single Nummer 1 klar, wie wir es schon von ihnen kennen. “Nein!” zu sagen, fällt vielen Menschen oft schwer. Doch UNZUCHT werden auch ihrem pädagogischen Auftrag gerecht und geben uns Nachhilfe in dieser Kunst. Von diesem Ohrwurm gibt es am Ende auch noch einen De Clercq-Remix, der Gitarrist mit der wunderbar rauen Stimme beherrscht diesen Song ja ohnehin.
Weiter geht’s mit melodischen Elektroklängen im Song “Unsterblich”. Wir unterliegen alle dem Verfall und der Vergänglichkeit der Dinge, das ist eine simple Wahrheit. UNZUCHT erteilen in der Bridge jedenfalls den Heilsversprechen der Religion eine klare Absage. Die Verklärung und Reinigung im Leiden, die durch die Passion Christi beschrieben werden als Weg zur Unsterblichkeit? Das wäre zumindest wünschenswert für all diejenigen, die heutzutage tagtäglich leiden. Wenn sie am Ende doch noch etwas davon hätten und belohnt werden würden, das würde dem Ganzen einen tröstlichen Sinn verleihen.
Ah! Jetzt kommen wir zum “Monsterfreilaufgehege”. Ein großartiger Song, der eine gehörige Portion Stahl enthält. Es klingen verschiedene Motive an. Wieder die Befreiung des Geistes durch einen gewaltsamen Tod mit Belohnung im Jenseits (Islamismuskritik?), dann wiederum die Befreiung der Erde von den Menschen als Errettung vor der Zerstörung. Fest steht: Die wahren Monster sind wir und wir sind im Moment kräftig am Randalieren. Außerdem hat jeder von uns Monster in seiner Seele, die wie der Kettenhund zwar notdürftig gefesselt sind, aber ein unbedachter Moment und diese Kette reißt vielleicht. Und wenn die Monster erstmal frei herumlaufen – wer weiß, was dann alles geschehen kann? “Die Gedanken sind frei”, wissen wir spätestens seit 1780, als das gleichnamige deutsche Volkslied veröffentlicht wurde. Diesem Motiv folgt auch der Song “Frieden”. Die Kraft des Geistes wird beschworen, um seinen inneren Frieden zu machen, auch wenn die Welt da draußen alles andere als friedlich ist. Das Lied kommt allerdings etwas beliebig daher und überstrapaziert das Motiv der Freiheit ein wenig.
Die niederländischen Symphonic-Metaler DELAIN brachten am gleichen Tag wie UNZUCHT ihre neue Platte heraus und beendeten das Album mit einem rein instrumentalen Track. Die UNZUCHT macht es genauso und schickt als letzte Monstrosität die gewaltige “Panzerechse” ins Rennen. Vielleicht haben wir hier einen neuen Trend, Alben auf diese Art abzuschließen. Ein instrumentaler Song bietet Zeit zum Nachdenken. Man kann die Augen schließen, die Musik ganz auf sich wirken lassen, ohne auf Texte achten zu müssen und in Ruhe ein inneres Stimmungsbild zeichnen.
Bei diesem letzten Song auf “Jenseits der Welt” kann sich Toby Fuhrmann an den Drums richtig austoben und mit dumpfen, nachhallenden Schlägen die behäbige und unüberwindliche Panzerechse zum Leben erwecken.
Fazit
UNZUCHT erlösen ihre Fans, die schon lange fieberhaft auf diesen Tag gewartet haben. “Jenseits der Welt” bietet alle gängigen Elemente aus dem Baukasten der Band – das Wechselspiel zwischen Lichtgestalt Schulz und Schattenmann de Clercq, einige nette Synthies und Texte zwischen Düsternis und Hoffnung mit viel Emotion sowie ab und zu auch “Auf die Fresse”-Rhythmen. Viel Bewährtes – wenig Innovatives. Man bekommt exakt das, was man erwartet hat. Vielleicht könnte man hin und wieder auch mal ausbrechen und etwas Neues versuchen. Das Caliban-Experiment kann man zumindest als einen solchen Versuch gelten lassen. Die politischen Einfärbungen an einigen Stellen werden manch einen stören, aber wer die Band und vor allem ihren Frontmann schon länger kennt, weiß, dass hier nicht der Kopf in den Sand gesteckt wird, sondern im Hause UNZUCHT hatte man schon immer eine Meinung zu den herrschenden Verhältnissen und es ist absolut legitim, diese aufs Tapet zu bringen! Die heutige Zeit lässt einem kaum eine Wahl, als den Mund aufzumachen und “Nein!” zu sagen!
Bewertung: 7/10
“Jenseits der Welt” erscheint heute, am 7. Februar bei Out of Line
Hier geht’s zum Shop
Alle Infos zur “Jenseits”-Tour
Unzucht sind:
Daniel Schulz (Vocals)
Daniel de Clercq (Vocals, Gitarre)
Andreas Puchebuhr (Bass)
Toby Fuhrmann (Schlageug)