Tanzen ist auch eine Haltung – Ein Abend mit ZWEITE JUGEND und AKTION FIASKO in Hannover

Am Samstag musste ich meine Komfortzone verlassen. Es ging aus dem verregneten Hamburg in das nicht weniger vernieselte Hannover, selbstverständlich der Musik wegen. Abgesehen davon, dass ich schon vorher wusste, dass es musikalisch die Mühe wert sein würde, war mir auch klar, dass ich mein gewohntes Hamburg zwar verlassen würde, aber auch nur, um die Komfortzone vieler meiner Freunde kennenlernen zu dürfen.

In der SUBKULTUR finden am laufenden Band interessante Konzerte statt, die ich bisher, trotz der Einladungen von Jens und meinen Freunden, nicht wahrnehmen konnte (oder wollte, weil entsprechende Touren auch in Hamburg vorbeischauten). Bei dem musikalischen Angebot vom Samstag konnte ich aber nicht anders, als zuzusagen.

Schon bei meiner Ankunft in der SUBKULTUR war ich beeindruckt. Die Grundfläche selbst eher gering, war der Club bis unters hohe Dach stimmungsvoll dekoriert. Gefühlt das überdimensionierte Wohnzimmer eines Musikenthusiasten, aber technisch einwandfrei eingerichtet von Bühne über Ton- und Lichtmischpulte bis hin zur Bar und voll mit Erinnerungen an Künstler, Bands und Events. Man merkte sofort, dass der Club mit Herzblut und viel Hingabe zu dem geworden war, was sich mir an dem Abend bot.

Wir waren so zeitig angereist, dass noch Zeit blieb für Smalltalk und Getränke, bis schließlich eine sichtlich nervöse, aber auch motivierte FRANZI BERLINA die Bühne betrat. Ihr zur Seite stand SEBASTIAN SCHLEINITZ, deutlich gefasster, aber auch voll vorfreudiger Ausstrahlung. Dieses Berliner-Erfurter Duo hört auf den Namen AKTION: FIASKO und hat es sich auf die Fahne geschrieben, der Szene grundsoliden Elektropunk mit aktuellen gesellschaftspolitischen Inhalten zu liefern, und das taten sie an diesem Abend auch. Kraftvoll, rotzig und frech kam FRANZI daher, aber man merkte sofort, dass sie ernst meinte, was sie sang.

“Bezwingen unseren Alltag, gleichgültig und ignorant. Augen zu, Maul zu, Lauscher zu! Konsumieren unseren eigenen Fraß, der Rest für uns nicht interessant. Augen zu, Maul zu, Lauscher zu!” (AKTION: FIASKO – ICH SEHE NICHT!)

Die übrigen Themen des Duos, wie Hatespeech, Selbstbestimmung und Feminismus, waren jetzt nichts, was einen mit Wohlbefinden flutete, aber das sollten sie auch nicht. Zu leicht ignoriert man, was einem nicht wehtut.

Ungeachtet ihrer bisher überschaubaren gemeinsamen Bühnenerfahrungen waren sie und SEBASTIAN an diesem Abend musikalisch ein eingespieltes Team. Auch wenn das Genre des Elektropunk nicht jedem gefällig ist, so war mir der Auftritt der beiden jede Minute Fahrtstrecke wert.

“In Dunkelheit erwacht ein zaghaftes Licht, die Apokalypse, nur ein Gedicht.”

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Fotos: Cynthia Theisinger & Patrick Burkhardt

Mit einem Gänsehautmoment startete für mich dann der nachfolgende Auftritt der beiden Spezialisten für elektronische Körpermusik ELI VAN VEGAS und MARCEL LÜKE aka ZWEITE JUGEND. Ein Gedicht über den Weltuntergang, generiert via künstlicher Intelligenz, war es, das ELI zur Eröffnung aus dem Off zitierte, bevor die beiden sich mit einer sehr langen Setliste daran machten, die SUBKULTUR für den Rest des Abends in Bewegung zu halten.

“Liebe den Liebenden und Krieg den Kriegenden!”

Man hat leider viel zu selten die Gelegenheit, die beiden auf der Bühne zu sehen, dabei sind ELI und MARCEL in meinen Augen zwei der vielversprechendsten Nachwuchskünstler der EBM-Szene. Bei dem Stil der beiden, der stark an “D.A.F” erinnert, wäre keiner überrascht gewesen, wenn sich an diesem Abend irgendwo zwischen “STIEFELLIEBE” und der Geschichte von “LEAH UND ALISSA” ein tanzender Mussolini eingeschlichen hätte.

Für zwei Songs stand auch FRANZI wieder mit auf der Bühne und sang gemeinsam mit ELI für das Publikum in der SUBKULTUR. Durchaus eine interessante Kombination, sollte man bei Gelegenheit wiederholen.

“Dienstag gibt es Probealarm, Paranoia in der Straßenbahn.”

Ein kleiner Sprung in die Vergangenheit: Hamburg, Mitte der 1970er Jahre, ein junger Mann kommt ins Gefängnis, kaum 18 Jahre alt, weil er in Begleitung eines bewaffneten Gesuchten war. Bei dem damals noch jungen Anarcho­nihilisten handelte es sich um Frank Ziegert, später Frontmann einer der ersten, wichtigsten und langlebigsten Bands im deutschen Punk: “ABWÄRTS”.

Deutschland im Herbst; während die zweite RAF-Generation das Land in Atem hielt, ließ der damalige BKA-Chef Fahndungsakten elektronisch erfassen und schraubte die Sorge vor Überwachung auf ein ungekanntes Maß herauf. Dieses paranoide Klima beschreibt „COMPUTERSTAAT“, A-Seite der Debütsingle von “ABWÄRTS”.

Der Sprung in die Gegenwart: Der 20.1.2024, in einem kleinen Club in Hannover spielen zwei EBM-Musiker nicht den “MUSSOLINI” von “D.A.F.”, sondern “COMPUTERSTAAT” von “ABWÄRTS”. Frank Z. starb drei Tage zuvor, am 17.1.2024, im Alter von gerade mal 66 Jahren, an Krebs. Zynismus, Dada-Reime und Punkprosa, Frank und ABWÄRTS haben ihre musikalischen Spuren hinterlassen.

Gegen Ende der Show hieß es noch einmal “HOCH DIE TASSEN” und nach einigen Zugaben räumten die beiden erschöpft, aber von einem Ohr bis zum anderen grinsend, die Bühne. Mancher ging im Anschluss nach einem kurzen Merchstand-Zwischenstopp heim, für die, die noch Energie übrig hatten, folgte die EBM-Aftershowparty mit DJ LO-RENZ.

Nach ein paar Getränken und noch ein wenig Geschnacke räumten wir ebenfalls das Feld, es ging wieder zurück nach Hamburg.

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Fotos: Cynthia Theisinger & Patrick Burkhardt
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