NEUROTICFISH & MORPHOSE – Die Rebellen von Hamburg (Can’t stop a riot!)

Dass LORD OF THE LOST, COMBICHRIST und Co. am vergangenen Samstag in Wilhelmsburg die Herrschaft übernommen hatten, hielt eine verschworene Gruppe Rebellen nicht davon ab, stattdessen in die Markthalle zu pilgern, um feinsten Synthie-Klängen zu frönen. Frei nach dem Motto “Can’t Stop A Riot” entwickelte die Veranstaltung ein (untotes) Eigenleben und behauptete sich mühelos gegen die innerstädtische Event-Konkurrenz.
Wer auf dem Hamburger Fischmarkt die besten Exemplare erwischen möchte, muss meistens sehr früh aufstehen.
Das Prachtexemplar NEUROTICFISH hingegen bekam man bequem am Abend und zentrumsnah serviert, Filetierung war allerdings streng verboten.

Doch zunächst gab es gefühlvollen Future Pop aus dem Hause MORPHOSE als akustische Vorspeise. Das Projekt um Christoph Schauer, das vor allem für die verschiedenen Gastsänger bekannt ist, eröffnete fulminant mit “Open Shutter” und Lennart an den Vocals. “Guten Abend, Hamburg!, begrüßte er die Anwesenden mit ordentlich Schwung. “Habt ihr mindestens so viel Bock wie ich?”. Die erste Reaktion des Publikums verleitete ihn allerdings zu dem Urteil: “Nö. Ich hab mehr!”. Es dauerte allerdings nicht lang, bis der charismatische SONO-Fronter mit seinen instrumentalen Kollegen die Menge auf Betriebstemperatur gebracht hatte. MORPHOSE schaffen es, frisch und unverbraucht in einer Szene rüberzukommen, die Erneuerung dringend benötigt. Auch der zweite Teil des Sets, der von Arc Morten am Mikro angeführt wurde, entfaltete durchaus dynamische Kraft in der ehrwürdigen Markthalle. Songs wie “Beneath It All” und “Patronize” (Arc dankte hier Victorija Kukule für den “geilen Song”) schlugen ein wie eine Bombe und man hatte keinesfalls das Gefühl, hier “nur” einen Support-Act zu sehen. Etwas verwunderlich war höchstens, dass Sascha Klein von NEUROTICFISH, der ja auch durchaus ebenfalls als MORPHOSE-Gastsänger gelistet wird, nicht Teil dieses Auftritts wurde. Angeboten hätte es sich ja.

Setlist MORPHOSE
1. Open Shutter
2. Encounter
3. Sounio
4. Spin The Wheel
5. Control
6. Beneath It All
7. Patronize
8. Closing Shutter

Morphose

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Fotos: Birger Treimer

Besagter Sascha übernahm aber dann nach einer kurzen Umbaupause das Szepter auf der Markthallen-Bühne. Der Zuschauerraum war zu diesem Zeitpunkt merklich voller geworden, dennoch blieb noch genug Platz zum Tanzen für den Einzelnen. Das war auch dringend notwendig, denn die melodischen Rhythmen von NEUROTICFISH lassen einem da schwerlich eine Wahl. Das Set begann auch gleich mit zwei neuen Songs vom kommenden Album, das den vielversprechenden Titel “The Demystification Of The Human Heart” tragen wird und in drei Tagen das diffuse Licht dieser Welt erblicken wird. Die neuen Werke “Imposter Syndrome” und “Bring The Noise” kamen bereits sehr gut beim Hamburger Publikum an.

Achtung! Kurzer Einschub mit Erklärung bzw. Überlegungen zum Imposter-Syndrom. Wem es nur um den Konzertbericht geht, überspringt den Abschnitt einfach!

Da wir bestimmt auch einen Bildungsauftrag haben (irgendwo, tief in der Satzung vergraben…) an dieser Stelle die kurze Aufklärung: Bei dem sog “Imposter-Syndrom” handelt es sich um das Gefühl von eigentlich erfolgreichen Menschen, ihren Ruhm. bzw. Erfolg gar nicht verdient zu haben. Trotz objektiv vorliegender, persönlicher Errungenschaften fühlen diese Menschen sich als “Hochstapler” und befürchten, irgendwann als Betrüger entlarvt zu werden. Sie haben das Gefühl, von anderen überschätzt zu werden und dass ihre Karriere jederzeit wie ein Kartenhaus zusammenstürzen könnte, sobald andere die von ihnen selbst angenommene Minderwertigkeit erkennen würden. Die weitreichende Entfaltungsfreiheit unserer heutigen Gesellschaft eröffnet uns eine Vielzahl von Wegen, das eigene Leben und die Karriere zu gestalten. Aber diese weit aufgefächerte Freiheit führt auch zu Unschärfen und dazu, dass es kaum noch objektiv messbare Faktoren für Erfolg gibt. Die eigene Verwirklichung ist dermaßen individuell, Trends so schnelllebig und die Mediengesellschaft so launisch, dass viele erfolgreiche Menschen um die Nachhaltigkeit ihrer Errungenschaften fürchten. Das wiederum befeuert sicherlich die Verbreitung des Imposter-Syndroms. Ich bin psychologisch nicht geschult oder qualifiziert, aber meiner bescheidenen Meinung nach schützt ein fester innerer Wertekompass ggf. vor diesem Syndrom. Dass man also den eigenen Erfolg nur an der inneren Zufriedenheit festmacht und vorrangig die eigenen Faktoren für die “Messung” des eigenen Erfolgs heranzieht. Je weniger man sich über äußere Bestätigung definieren muss, desto eher erlangt man inneren Frieden und kann sein Leben souverän selbst gestalten. Die authentischsten KünstlerInnen erschaffen ihre Kunst nur für sich selbst und gehen unbeirrbar ihren eigenen Weg, egal wie nischig sie dann damit bleiben. Fakt ist aber auch: Wer unter psychischen Problemen leidet, ist in seiner Lebensgestaltung fast immer eingeschränkt und verfügt über diesen “Luxus” der Freiheit also nicht immer.

“Jetzt geht’s weiter mit etwas Bekanntem”, leitete Sascha aber dann zum All-time-Favourite “Silence” über. Durchatmen konnte man danach beim ruhigen und emotionalen Song “Walk Alone”. NEUROTICFISH haben selbstverständlich zahlreiche Clubhits mit treibenden Beats geschrieben! Aber ich finde, dass die besondere Stärke von Sascha Kleins Stimme bei solch gefühlvollen Songs eine einzigartige Kraft entfalten kann. “We all walk alone!”, lautete die desillusionierende Botschaft auf dem Hintergrundbildschirm. Danach konnte man die Traurigkeit aber gleich wieder mit dem deutlich fordernderen “Civilized” abschütteln. Die Tanz-Intensität der Menge nahm bei diesem Song noch einmal deutlich zu, die Nachfrage “Geht’s euch gut?” von der Bühne war da fast überflüssig. “Klassiker jetzt?”, lautete das Angebot des Fronters, das natürlich niemand ablehnen konnte oder wollte. Aber dafür wurde deutlich Bewegung eingefordert und auch geliefert. “Wake me Up” bot auch die erste Gelegenheit, deutlich mitzusingen und die Kernbotschaft des dynamischen Songs herauszubrüllen. Klasse, wie sich die Atmosphäre vor Ort entfalten konnte. Das war natürlich auch dem exzellenten Sound und der sehr gut abgestimmten Lichtshow geschuldet. Kompliment an die versierten Techniker! Danach brauchte Klein aber auch erstmal eine Trinkpause. Trotz der niedrigen Temperaturen im nasskalten Hamburg war es in der Markthalle ziemlich warm geworden. Es wurde an dieser Stelle Zeit für weitere Werbung bezüglich des neuen Albums. “How To Suffer” entfaltete seinen Zauber und die Abfrage “Wie hat’s euch gefallen? Kann man machen, oder?” danach konnte die Menge nur mit Jubel beantworten. Die Crux daran, eine Band mit einer so langen und erfolgreichen Geschichte wie NEUROTICFISH zu sein, besteht darin, zahlreiche Hits im Set unterbringen zu müssen. Daher verdichtete sich die Setlist im letzten Drittel noch einmal und wartete mit Publikums-Lieblingen wie “Suffocating Right”, “A Greater Good” und “Is It Dead?” auf. Es war bekannt, dass um 23.00 Uhr die ebenfalls bestens etablierte “Return Of The Living Dead”-Party in der Markthalle starten sollte, aber die Band ließ sich nicht davon abhalten, noch mehrere Zugaben zu spielen. So kam ein großartiges und ausgedehntes Set zusammen. Die Band war auch sichtlich zufrieden und lobte die Hamburger mit “Ihr seid super”. Ich attestiere, dass dieser Abend dem Heimspiel-Konzert, dass üblicherweise in Oberhausen stattfindet, und dem ich schon mehrfach beiwohnen durfte, stimmungsmäßig in nichts nachstand. Woran es dem Publikum, nicht jedoch der Setlist mangelte, war der “FLuchtreflex”. Und auch der Clubhit “Velocity” mit seinem gewaltigen Ohrwurm-Potenzial durfte natürlich als Abschluss des regulären Sets nicht fehlen. Diese thematische Zuspitzung zum Ende hin sorgte für das Erreichen des Siedepunktes in der Markthalle. Absolut niemand war an diesem Zeitpunkt bereit, NEUROTICFISH wieder in ihre Gewässer zu entlassen. Es wurde gebrüllt, gestampft und gejubelt, bis die Veteranen auf die Bühne zurückkehrten und noch drei weitere Songs zum Besten gaben.

Viele nutzten hernach die Möglichkeit, legal aufgeputscht durch die großartigen Konzerte von MORPHOSE und NEUROTICFISH, direkt zur bereits erwähnten Party auf mehreren Floors zu wechseln. Auch wir tanzten bis in die frühen Morgenstunden durch und rundeten so diesen von Neuwerk und Living Dead Production in der Markthalle gestalteten, fulminanten Abend ab. Auch wenn ruhig ein paar mehr Tickets hätten verkauft werden können, hat das großartige Event mir wieder etwas Hoffnung für die langsam aussterbende Szene gegeben. Danke dafür, Hamburg!

Setlist NEUROTICFISH
1. Imposter Syndrome
2. Bring The Noise
3. Silence
4. Walk Alone
5. Civilized
6. Wake Me Up
7. How To Suffer
8. A Greater Good
9. Suffocating Right
10. Bomb
11. Behaviour
12. Is It Dead?
13. M.F.A.P.L.
14. Can’t Stop A Riot
15. Fluchtreflex
16. Velocity

17. Invisible
18. Illusion Of Home
19. Former Me

Neuroticfish

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Fotos: Birger Treimer
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