Review: WITHIN TEMPTATION – “Bleed Out”

Sie haben es wieder getan. Die Symphonic Metal-Institution aus den Niederlanden präsentiert morgen ihr neues Album “Bleed Out” der Welt. Und die kann gespannt sein, was die Hitschmiede von WITHIN TEMPTATION nun wieder ausgebrütet hat. Die Band hat eine beeindruckende Entwicklung in den letzten Jahren hingelegt, beschleunigt noch einmal seit der Veröffentlichung von “Resist” 2019. Der Schreibprozess des Albums fiel zwar in die Zeit von Corona, aber die Band betont, dass “Bleed Out” kein Pandemie-Album ist. WITHIN TEMPTATION haben stattdessen längst das große Ganze im Blick, also die Richtung, in die sich unsere Welt entwickelt. Dabei wird kein Blatt vor den Mund genommen, eine gewisse Angriffslustigkeit in Bezug auf das Aussprechen von Problemen ist der Band durchaus zu eigen. WITHIN TEMPTATION haben sich bewusst von der in der Musikszene häufig beteuerten “Unpolitischkeit” verabschiedet. Sie veröffentlichen ihre Musik mittlerweile selbst, ohne ein Plattenlabel und machen nur das, wohinter sie zu 100% stehen. Dass man längst souverän seine eigenen Wege geht, bewies die Band auch dadurch, dass sie während der Pandemie immer wieder einzelne Singles veröffentlichte. “Es bedeutete, dass wir einen Song in dem Moment schreiben konnten, wenn ein Ereignis eintrat und wir konnten dann in einem relativ kurzen Zeitraum veröffentlichen, anstatt in zwei Jahre später”, sagt Sharon dazu. “Das ist eine wirklich schöne Möglichkeit und ich bin wirklich begeistert davon.” “Wenn wir in der Lage sind, schnell zu veröffentlichen, bedeutet das, dass wir nicht 18 Monate hinterherhinken, wenn wir über unsere Songs sprechen”, fügt Robert Westerholt hinzu.
Diesem Umstand ist es auch zu verdanken, dass wir die Hälfte der Tracks von “Bleed Out” bereits kennen.

Das Album beginnt bereits stark mit dem Opener “We Go To War”. Wer die letzte Tour oder die Festivalshows besucht hat, weiß, dass Sharon stets eine große Ukraine-Flagge auf der Bühne geschwenkt hat und den Song “Raise Your Banner” immer mit einem deutlichen Statement gegen den russischen Angriffskrieg eingeleitet hat. Sie fragte regelmäßig, was wir tun würden, wenn unser Land angegriffen wird und ob wir bereit wären, unsere Liebsten zu verteidigen.
“We Go To War” scheint in eine ähnliche Kerbe zu schlagen. Das hat nichts mit Kriegslüsternheit zu tun, sondern mit der Notwendigkeit der Verteidigung und der Bereitschaft, das Richte zu tun, um andere zu schützen. Neben der starken Botschaft kann der Song auch soundtechnisch überzeugen. Die Keyboard-Melodie geht direkt ins Ohr und die Choräle steigern den Epicness-Faktor. “And when we hear the call we go to war” – Gänsehautfaktor sehr hoch! Der Song endet mit einigen Glockentönen und leitet über zum zweiten Track “Bleed Out”, dem Titelsong des Albums. Ausbluten… kein schönes Bild. Aber auch ein poetisches, wenn man die Tragik einmal ausblendet. Bei einer größeren, offenen Wunde wird das eigene Herz im Grunde zum Verräter. Die Pumpbewegungen, die uns sonst am Leben erhalten und das Blut im Körper verteilen, sorgen nun dafür, dass die Essenz unseres Seins austritt und eine Verbindung mit der Umwelt eingeht. Wir schenken unfreiwillig unser Blut und damit den Träger unseres Lebens her und lassen zu, dass es sich in den Erdboden ergießt, der uns einst hervorgebracht hat. Sämtliche philosophische Überlegungen müssen aber verblasse, wenn einem die harte Realität im wahrsten Sinne des Wortes ins Gesicht schlägt! Denn Jina Mahsa Amini ist tot! Die Situation der Frauen im Iran, die nach dem gewaltsamen Tod der Studentin zu landesweiten Protesten geführt hatte, wird hier thematisiert. Sharon den Adel, die einige Zeit im Jemen gelebt hatte, will nachhaltig auf den Kampf der Frauen im Iran aufmerksam machen. Auf ihren Mut und den unbändigen Willen, willkürliche Tötungen wegen Dingen wie angeblichen Verstößen gegen die islamische Kleiderordnung nicht mehr einfach hinzunehmen. Wenn man diesen krassen Hintergrund eines Tracks kennt, hört man die Musik mit ganz anderen Gefühlen. Das hier ist nichts Diffuses, nichts Undeutliches oder frei Interpretierbares. Menschen sterben! Getötet und gequält von ihrer eigenen Regierung. Wir haben alle die Verantwortung, zumindest die Namen von Jina Mahsa Amini und ihren LeidensgenossInnen auszusprechen und laut unsere Stimmen für eine Welt zu erheben, in der eine Frau selbst entscheiden darf, wie sie sich kleidet und ihr Leben führt! Der Song startet mit mächtigen Gitarrenwänden, die auch später von der Bridge noch einmal aufgegriffen werden, die Strophen hingegen kommen trügerisch sanft daher. Ein häufig angewandtes Stilmittel auf dem gesamten Album ist der Stimmverzerrer und auch Hall wird häufig hinzugefügt. Dadurch entsteht mit Sharons Stimme ein kühl wirkender “Unterwasser-Sound”. Sehr interessanter Effekt! Manchmal hat man beim Anhören von neuer Musik Assoziationen, die man sich nicht erklären kann. Bei dem ätherischen Sound von “Bleed Out” sehe ich die ergreifende Szene aus “Harry Potter und die Heiligtümer des Todes” vor mir, als der Protagonist zum ersten Mal am Grab seiner Eltern im Schnee steht. Der Song löst so oder so inneren Schmerz aus und das gelingt durch die großartige Komposition.

“Wireless” kam bei Veröffentlichung mit einem starken Video zusammen und thematisiert den Ukraine-Krieg. Die Botschaft ist vollkommen klar: Russland hat unvorstellbares Leid aus niederen Motiven angerichtet! Die Zeit der Grautöne ist vorbei. WITHIN TEMPTATION wollen uns ermutigen, klar Stellung zu beziehen und Unrecht und verursachtes Leid mutig anzuprangern! Sie gehen als gutes Beispiel voran. “Wireless” baut seine emotionale Wucht nur langsam auf, die hoch gesungenen Schleifen im Pre-Chorus sind wunderbar gelungen. Die zweite Strophe überzeugt zudem durch zwingende Synth-Klänge im Hintergrund. “Our bloody halo” bekommt man nicht mehr so schnell aus dem Kopf. Der Folgetrack “Worth Dying For Wake Up” kommt dagegen fast ein wenig generisch daher. Hier wird auf technische Spielereien weitgehend verzichtet, das Lied ist durch eine gewisse soundtechnische Gradlinigkeit ohne große Wechsel gekennzeichnet. Der Refrain stellt unweigerlich klar “It is worth dying for!”. Es gibt Dinge, die über allem schweben. Werte, Ziele, für die es sich zu sterben lohnt. Hier findet sich auch eins der auf dem Album eher spärlich gesähten Gitarrensoli. Der nächste harte Bruch folgt auf dem Fuß in Form von “Ritual”. Den Song muss man tatsächlich mehrmals hören, da man erst einmal verwirrt ist. Hier sucht man die kühle Atmosphäre und die inhärente Tragik der anderen Tracks vergeblich. Stattdessen bekommt man einen cool-groovigen Track mit einem heiteren Kinderchor. Hier schadet ein wenig Kontext nicht. “Ritual” ist, wie Sharon erklärt, einer der verruchtesten Songs, den die Band je geschrieben hat und wurde vollständig von Tarantinos From Dusk Till Dawn inspiriert. “Es ist ein lustiger Track über Verführung”, sagt die Fronterin dazu und fügt hinzu, dass es um das Empowerment einer Frau geht, die das Patriarchat in seine Schranken weist und die Macht übernimmt. WITHIN TEMPTATION ist immer für eine Überraschung gut, sie fallen gerne einmal aus dem Rahmen. Man denke an den unkonventionellen Track “Mad World” auf dem “Resist”-Album. Das Lied macht jedenfalls ähnlich viel Spaß wie “Mad World”.

Als bewanderter Smyphonic Metal-Fan stutzt man erst einmal beim Titel des Songs “Cyanide Love”. Das gab es doch schon einmal? Richtig! SIRENIA haben 2018 den Track “Love Like Cyanide” veröffentlicht. Cyanid, eine hochgiftige Kohlenstoff-Stickstoff-Verbindung, steht hier metaphorisch für eine toxische, also schädlich bis tödliche Liebe. Auch hier werden wieder starke Kontraste erzeugt, denn Sharon singt hier in den Strophen mit kindlich-unbeschwerter Stimme, der Pre-Chorus klingt sogar wie ein Abzählreim. Hier wird mit interessanten Stilmitteln gearbeitet. Die Gefährlichkeit toxischer Beziehungen liegt ja oft darin, dass eine einseitige Abhängigkeit besteht und das von einer Seite gezielte, emotionale Manipulation ausgeht. Dadurch fällt es Opfern schwer, sich aus einer solchen, schädlichen Beziehung zu befreien. Wenn charakterlich eine gewisse Unschuld/Naivität vorliegt, hat es der Manipulator noch einfacher. In solchen Situationen wird oft nachhaltiger, psychischer Schaden angerichtet, indem mit den Gefühlen, Träumen und Hoffnungen von Menschen gespielt wird. Ein wichtiges Thema, auf dass man nicht genug Aufmerksamkeit lenken kann. Das Outro des Songs gibt noch einmal kräftig Gas mit tollem Gitarrensound und dem herrlich verstörenden Gesang.
Die zweite Hälfte des Albums ist von uns bereits bestens bekannten Songs geprägt, eben jenen während der Pandemie veröffentlichen Singles. “The Purge” erschien damals als zweites und traf genau den Nerv der Zeit:
“And it follows me, it’s carving the heart out of me
I’ve got to bleed it out, all my thoughts intoxicated
‘Cause the weight on me, it buries me alive
It pulls me down right into the darkness
It pulls me down, and I can’t resist”

Das haben während der Pandemie wohl viele Menschen so empfunden. Interessanterweise wird hier eine weitere Art von “bleed (it) out” erwähnt, die eine ganz andere Funktion hat, nämlich die der Reinigung. Natürlich im übertragenen Sinne, denn die Vorstellung aus dem Mittelalter, dass ein Aderlass, also das Ableiten von “verseuchtem Blut”, viele Krankheiten heilen könne, führte nicht selten erst zum Tod des Patienten. Aber der Gedanke einer geistigen Entgiftung, eines Herauslassens von dunklen Gedanken, einem Befreiungsschlag, ist während der Corona-Zeit durchaus relevant gewesen. Die eindringlichen Wiederholungen im Refrain machen den Song zum Ohrwurm-Kandidaten.
Auch der nachfolgende Track “Don’t Pray For Me” hat es in sich. Ergänzend zu “Bleed Out” wird hier generell das Recht der Frauen auf der Welt verteidigt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, in welchem sie die freie Wahl haben. Es ist zunächst einmal schön, wenn man öffentlich Solidarität mit Unterdrückten zeigt. Nach Terroranschlägen und anderen Katastrophen ist es seit einiger Zeit üblich, auf Social Media “Pray for XX” zu posten. Das Statement, das zeigen soll, dass man in Gedanken bei den Opfern ist, wird sicherlich wertgeschätzt. Aber das ist mitunter nicht genug.

Duette haben bei WITHIN TEMPTATION durchaus eine lange Tradition. In die Reihe von großartigen Gast-MusikerInnen wie zum Beispiel Anneke van Giersbergen, Jacoby Shaddix, Mina Caputo oder Tarja Turunen reihen sich nun auch die ANNISOKAY-Sänger Christoph Wieczorek und Rudi Schwarzer ein. Das großartige “Shed My Skin” wurde damals im Jahr 2021 veröffentlicht und findet auf “Bleed Out” nun seinen wohlverdienten Albums-Platz. Mit “Unbroken” findet sich in der zweiten Hälfte ein einziger, bisher noch nicht veröffentlichter Song. Angesichts der ganzen Missstände fällt es bisweilen schwer, sich seinen Verstand und seinen Kampfeswillen zu bewahren. Doch WITHIN TEMPTATION rufen mit “Unbroken” zu Stärke auf und dazu, den Kampf für das Gute fortzusetzen. Den Abschluss des Albums bildet die älteste Single “Entertain You”. Dieser Song war als einziger ohnehin damals für die Auskopplung vorgesehen, als die “Worlds Collide”-Tour mit EVANESCENCE viermal verschoben werden musste und die Pandemie das Land fest im Griff hatte. Auch hier wieder ein kämpferisches, gesellschaftlich relevantes Thema: “We’re not here to entertain you”. Die Emanzipation von dem Phänomen, den Vorstellungen der Society genügen zu müssen und die Ausgrenzung und das Fingerpointing, das man anderenfalls erdulden muss. Eine starke Hmyne dafür, sich von diesen Zwängen zu befreien und seinen eigenen Weg zu gehen sowie Courage zu zeigen, und denjenigen beizustehen, die unter den diktierten Normen der Gesellschaft leiden und von dieser öffentlich gedemütigt werden.

Fazit
Das hier ist keine seichte Unterhaltungsmusik! “Bleed Out” ist ein fettes und lautes Ausrufzeichen gegen die Missstände dieser Welt. Vielleicht findet sich deshalb auch keine einzige echte Ballade auf dem Album. Der Symphonic Metal hat seine Unschuld verloren und präsentiert sich durch WITHIN TEMPTATION ausdrucksstärker und bildgewaltiger als jemals zuvor. Vorbei die Zeiten der Natur-Mystik und der Eisköniginnen. Der “Elvenpath” ist ausgelaufen! Er endet an einem Abgrund, den wir selbst geschaffen haben. Die harte Realität dieser Welt erfordert offene Augen und einen wachen Geist sowie eine laute Stimme. Ich habe in meiner Jugend mit WITHIN TEMPTATION geträumt. Jetzt schulde ich es ihnen, mit ihnen aufzuwachen und zu kämpfen! Raise your banner, mankind! Damit niemand mehr ausbluten muss!

Bewertung: 10/10

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