DIARY OF DREAMS injizieren uns live in Frankfurt eine Überdosis “Melancholin”

Anmerkung: Unser Redakteur war in Frankfurt beim Tourabschluss, die Fotos stammen aber von der Show in Berlin!

Allen Orten schwinden die Zuschauerzahlen bei Live-Konzerten. Kleinere Venues werden bevorzugt, Touren reduziert oder abgesagt. Nicht so bei DIARY OF DREAMS. Wenn es überall bröckelt und rostet in der Gesellschaft, wenn alles nur noch herumoxidiert und -vegetiert, ist Hoffnung ein rares Gut. Ein Gut, mit dem DIARY OF DREAMS freilich nicht handeln. Wer diese Band hört, hat schon längst akzeptiert, dass wir immer schneller auf den Untergang zurasen und sich mit dem Schmerz angefreundet, der den Verfall unweigerlich begleitet. Adrian Hates’ Akolythen pflanzen stoisch schwarze Stiefmütterchen in die Risse, die sich quer durch die Gesellschaft ziehen und bezeugen stumm das Sterben dieser von allen Göttern verlassenen Welt. Diese Botschaften sind gefragter denn je in der treuen Fanbase. Das neue Album “Melancholin” wurde begeistert aufgenommen und zirkuliert nicht nur auf den Plattentellern, sondern auch in den septischen Blutbahnen der Anhänger.

Doch der kräftige Schluck aus dem Schierlingsbecher musste noch warten, denn zunächst standen Schwimmübungen an. SEA OF SIN war angetreten, um die schwierige Aufgabe wahrzunehmen, die Szeneanhänger auf den Hauptact vorzubereiten. Das dynamische Duo aus Frank Zwicker an den Vocals und dem Gitarristen Klaus Schill spielte bemerkenswert unbeschwert auf und startete mit dem 2018er Song “Truth”. Die Band begann ursprünglich schon in den 90ern, meldete sich aber erst nach einer langen Pause in 2018 mit dem Album “FuturePulse” zurück. Und wie klingt SEA OF SIN? Nun, man bekommt direkt Assoziationen von A LIFE [DIVIDED], man erlebt eine Art ruhigen SynthPop mit einem leicht düsteren Twist. Spätestens bei der 2022er-Single “Synchronize” taute das Publikum auf und bewegte sich nun ausgiebig zu den sanft fließenden Rhythmen. Franks Stimme klingt wunderbar klar und rein, was man besonders bei den lang gehaltenen Tönen bemerkt und Klaus’ leidenschaftliches Gitarrenspiel rundet das Bild ab. Manchmal braucht es gar nicht mehr als zwei talentierte Musiker, um eine gute Zeit zu haben. Der Sänger kündigte auch gleich ein neues Album für den 21. April an, das unter anderem die Single “Synchronize” enthalten wird. “High And Low” ist zwar kein neuer Song, aber ein neues Video gibt es zu diesem schönen Stück, das man natürlich auf youtube ansehen kann und sollte. Mit zwei Songs aus der Comeback-Phase (“What Are You Waiting For?” und “Beyond Sadness”) endete das kurze, aber eindrucksvolle Set. “Wer noch schnacken will, darf zum Merch kommen. Wir stehen da unauffällig”, verkündete Frank noch schlicht, ehe er sich bei der Crew, DIARY OF DREAMS und Lana vom Merchstand bedankte. Sympathische Jungs und eine großartige, emotionale Musik – das ist SEA OF SIN. Die beiden Musiker nahmen sich nach dem DIARY OF DREAMS-Set tatsächlich noch lange Zeit für Gespräche mit den Fans am Merch. Wir dürfen von dieser Formation sicherlich noch einiges erwarten.

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Fotos: Anja P.

Wer sich bei der Supportband ein wenig zu wohlgefühlt hatte, wurde nun in die dornenreiche Wirklichkeit zurückgebracht, als DIARY OF DREAMS um 20:50 Uhr die Bühne betraten. Die neue Batschkapp in Frankfurt war zwar nicht ausverkauft, aber dennoch gut gefüllt. Man konnte als langjähriger Fan nicht umhin zu bemerken, dass es immer mehr Leute gibt, die diese Band sehen möchten. Für die Fotografen ist DIARY OF DREAMS allerdings seit jeher eine ziemliche Herausforderung, “grau im Licht” ist hier nicht nur ein Songtitel und egal, was Sven Plöger am Vortag im TV verkündet hat: Wenn DoD spielen, zieht immer von irgendwoher Nebel auf. Mysteriös. Die Menge bekam auch gleich den ersten neuen Song serviert: “Mein Werk aus Zement” lautete das Credo. “Wir sind wieder bei euch!”, rief Adrian Hates und erntete donnernden Jubel. “Wir haben auch ein bisschen Musik mitgebracht. Fangen wir mal so an:” Dann ertönte der alles erschütternde Mahlstrom des All-time-Favourites “Epicon” aus den Boxen. Dieser Keyboard-Stampfer erschüttert einfach jeden bis in die Grundfesten und Felix Wunderer griff für diesen Song auch zur Keytar, um noch direkter mit dem Publikum am Bühnenrand interagieren zu können. So schwere Kost zu Beginn des Sets, das ist typisch DIARY OF DREAMS. Doch Fronter Adrian wies sympathischerweise auch gleich auf Menschen hin, die nicht in der ersten Reihe stehen. Backliner Eike reichte ein Getränk und wurde mit einem Trinkspruch belohnt: “Auf Eike, den unsichtbaren Mann, der immer sichtbar ist!”, prostete Hates und umarmte den adrett gekleideten Crewman, nur um dann zum ikonischen “MenschFeind” überzuleiten, das seitens der Menge natürlich enthusiastisch mitgesungen wurde. Der Sänger war sichtlich zufrieden: “Das wird ein toller Tourabschluss. Danke auch an SEA OF SIN, dass sie uns begleitet haben. Wunderbare Menschen – tolle Musik”, äußerte sich Adrian Hates anerkennend. “Wir reisen zurück in ferne Zeiten!”, schallte es dann aus dem Nebel. “Kennt ihr das?”. Die Frage war hoffentlich rhetorisch gemeint, denn ob heiratswillig oder nicht, “The Wedding” dürfte jedem in der Szene ein Begriff sein. Noch so ein Song der Band, der einen von Anfang an gefangennimmt. Ein verhängnisvoller Flug mit dem tragischen Helden “Ikarus” über den blutroten Himmel später fingen dann die Gedanken an zu kreisen. Ich kenne das schon von DIARY OF DREAMS-Konzerten. Man wird innerlich von diesem kompromisslos harten und dunklen Sound regelrecht auseinandergepflückt und beginnt dann automatisch zu philosophieren. Bluten wir nicht alle hinter der mühsam hochgezogenen Fassade? Wir härten unsere Verteidigung, unser Panzerhaus jeden Tag, um ja nicht zuzulassen, dass die toxische Gesellschaft da draußen Löcher in uns bohren kann. Aber was ist dieser Panzer noch wert, was taugt dieser Schutz gegen Adrian Hates’ brennenden Blick? DIARY OF DREAMS erreicht die Seele dennoch, egal wie gut man sie weggeschlossen hat. Wann haben wir eigentlich verlernt, dass Wunden nur heilen können, wenn man Luft an sie heranlässt? Wir verputzen die löchrige Fassade stattdessen immer wieder neu und verrotten innerlich. Wir alle sind todkrank und meißeln unser Lächeln trotzdem jeden Tag neu in die eingefallenen Gesichter. Aber auf einem DoD-Konzert kann man endlich mal wieder von dieser ungesunden Praxis abweichen. Es heißt häufig von diversen Gothic-Bands, dass durch die Musik eine kathartische Wirkung erzielt wird und die Heilung einsetzt. Ich bin mir da nicht so sicher. Ich denke nicht, dass DIARY OF DREAMS die Medizin ist, sondern eher – für die Game of Thrones-Fans unter euch – die Gabe des vielgesichtigen Gottes. Wir haben tief gekramt und das hier gefunden!” – Adrian Hates beherrscht die Kunst, kurze, pointierte Ansagen zu machen. In der Tat ist der Song “King Of Nowhere” schon vierzehn Jahre alt, kommt bei der Menge aber immer noch genauso gut an. Der Fronter stellte dann erneut eine rhetorische Frage und wollte wissen, ob das neue Album “Melancholin” gut angekommen sei. Den Beweis lieferte die laute Publikumsreaktion auf “Beyond The Void”. Wer vom Weltschmerz durchdrungen ist, hat eigentlich keine Fragen, somit muss man auch nicht in der Musik nach Antworten suchen. DIARY OF DREAMS unterstreicht eher die Fragen. Schmerz ist eine sehr persönliche Erfahrung, wieso also sollte es eine allgemeingültige Antwort darauf geben? Entweder man findet die individuelle Antwort selbst oder man lässt zu, dass einige essentielle Fragen ungeklärt bleiben. Auch “Listen And Scream” brachte weiß Gott keine Gelegenheit zum Meditieren, sondern eher zu unruhigem Alptraumschlaf. Es ist kein Wunder, dass man auf einem DoD-Konzert beim Blick in die Menge die unterschiedlichsten Gefühlszustände entdecken kann. Natürlich wiegen sich manche im Takt der Musik – ein Bild der Harmonie. Aber es gibt genauso schmerzhafte Verrenkungen, Zucken, leidvolle Blicke. Als Wanderer auf dunklen Pfaden empfindet man all das nicht als negativ, sondern als Ausdruck der ernsthaften Auseinandersetzung mit der Kunst, aber auch mit den inneren Dämonen und der sturmumtosten Ruine, die wir Seele nennen. Es stimmt schon, dass diese Musik gewissermaßen alles Negative aus einem heraussaugt und da könnte man durchaus, wenn man an dieser Stelle stehenbleibt, von einer Katharsis sprechen. Aber was geschieht danach? Der Gothic von heute sieht die dunkle Essenz seiner inneren Melancholie nach der Extraktion als dunkles Abbild, als schemenhaften Schattenriss vor sich, wendet sich dieser der eigenen Silhouette sehr ähnlichen Gestalt bewusst zu und umarmt diesen kalten, harten Teil von sich selbst ganz bewusst, nur um dann diesen Teil seiner selbst willentlich wieder in sich aufzunehmen. Man muss diese Umarmung wagen, denn wenn man der dunklen Essenz den Wiedereintritt ins Ich verweigert, verfolgt einen dieser verbannte Schatten fortan auf Schritt und Tritt und lässt einem keine Ruhe mehr. Der Blick in den Obsidian-Spiegel bringt vielleicht keine Versöhnung, aber doch eine gegenseitige Akzeptanz mit sich. Adrians Stimme holte mich in die Wirklichkeit zurück, als er Zurufe einfordert: “Lauter! ich kann euch nicht hören” und: “Ich mag krasse Wechsel und darum kommt jetzt einer!”. Gemeint war damit der sehr ruhige, balladeske Song “She And Her Darkness” vom 2012er Opus “The Anatomy Of Silence”. Nach dem Song entstand in der ersten Reihe etwas Unruhe. Adrian ging näher heran und erkundigte sich offenbar nach dem Wohlbefinden eines Zuhörers: “Ist alles okay?”. Der besorgte Fronter überzeugte sich ausgiebig, dass hier kein medizinischer Notfall vorlag und forderte auch den beflissenen Eike an, ggf. Hilfestellung beim Klettern in den Graben zu leisten, aber offenbar fing der Fan sich wieder und blieb an Ort und Stelle. “Alles im grünen Bereich. Soviel Zeit muss sein!”, vermeldete Hates. Und da hat er natürlich absolut recht. Bei aller persönlichen Auseinandersetzung mit Schmerz und Hoffnungslosigkeit sollte man dennoch an einem solchen Abend auch einen Blick auf seinen Nachbarn/ seine Nachbarin haben. Als nächstes bekamen wir eine der “Melancholin”-Singles namens “Viva La Bestia” zu hören, ein ganz schöner Live-Kracher. Das neue Material ist von der treuen Fanbase längst adaptiert worden, daran bestand nicht der geringste Zweifel. “Wisst ihr was? Ich mach das schon ein paar Jahre. Zwei, drei… “, gab der Sänger ironisch zu Protokoll. “Der Unterschied, den ich merke… nach zehn Tagen Tour ist die eigene Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Ich ärgere mich schwarz. Man will mehr als man kann”, machte Hates aus seinem Herzen keine Mördergrube. Allerdings merkte man in Frankfurt durchaus nichts von einer verringerten Leistungsfähigkeit, das Konzert war absolut bombastisch. “Aber wisst ihr, was gut ist? IHR seid noch da. Ihr gebt alles für diesen wunderschönen Tourabschluss in Frankfurt! Übrigens, wer MICH auf dem neuen Album entdecken möchte, der liest den Text von diesem Song: “The Secret”. Die wenigen, die noch nicht verstanden hatten, wie persönlich diese Single ist, hatten jetzt Gelegenheit, Hausaufgaben nachzuholen. Mit dem donnernden Schlussakkord des Stückes erzitterten alle Anwesenden und waren wieder bereit für ein altes “Schätzchen”, das in Form von “Kindrom” kredenzt wurde. Felix tobte sich wieder an der Keytar bei dem 2004er-Song aus.
Dann gab es eine große Schüppe Sarkasmus für die Fans: “Sooo, die letzten drei Jahre waren echt cool! So richtig guuut! Daher widmen wir den nächsten Song diesen drei bezaubernden Jahren: Die Pest!”, kündigte der Fronter den Song “The Plague” an. Und als Schlusspunkt für das Hauptset musste ein guter alter Klassiker, allerdings “im neuen Gewand”, wie Hates betonte, herhalten: “The Curse” bot nochmal ordentlich Gelegenheit, mitzusingen. Natürlich ließen die Frankfurterinnen und Frankfurter das Quartett keinesfalls widerspruchslos verschwinden, sondern brüllten es auf die Bühne zurück. Wer einmal von dem dunklen Trank gekostet hat, den DIARY OF DREAMS darreichen, will ihn auch bis zur Neige leeren. Dazu gab es zum Glück noch Gelegenheit mit der ersten Zugabe, bestehend aus “The Fatalist” und “Undividable”. Aber auch das war noch nicht genug. No rest for the wicked, schien das Stichwort zu lauten, denn Adrian kehrte erneut auf die Bühne zurück und verkündete: “Vor entzückenden 23 Jahren… sah ich natürlich genauso aus wie jetzt… und da hab ich etwas geschrieben, das teilen wir jetzt mit euch. Frankfurt, eure Hände!”. Die bekam er natürlich sofort in großer Zahl und konnte so den beliebten “Butterfly Dance” mit der Menge zelebrieren. Mittlerweile war definitiv jedwede Verteidigung gesenkt und alle waren vollkommen durchtränkt von dem bittersüßen Melancholin, das der Brunnen auf der Bühne mannigfach ausschüttete. Es gab dann zum endgültigen Abschluss nicht nur persönliche Musik in Frankfurt, sondern auch noch ein paar persönliche Worte des sympathischen Masterminds: “Wisst ihr was? Das sind so komplett surreale Momente. Ich habe jetzt sechs Jahre gearbeitet, um das Album rauszubringen und die Tour dazu gemacht. Dann steht man leider an diesem Punkt, wo man einen Abschluss hat und das macht einen sehr glücklich und traurig zugleich. Ich möchte allen danken, die an der Produktion beteiligt waren. Das waren harte Jahre! Ohne euch alle würde es dieses Album definitiv nicht geben. Und dann braucht es am Ende keinen Staat, keine Politik. Dann braucht es nur uns! Und weil ich weiß, dass der Kapellmeister (Felix) gern Klavier spielen will, tun wir das jetzt auch. Jetzt kommt nämlich was, was Fluch und Segen für uns ist. Ich weiß, ihr habt’s lieb und wir irgendwie auch, aber dann auch wieder nicht. Aber wir mussten es verändern, damit wir es spielen können…” Jeder Fan weiß jetzt genau, was den Schlusspunkt dieses Abends bildete. Natürlich der “größte Hit” der Band: “Traumtänzer”. Es wurde schon viel philosophiert über den “einen” Song einer Band, ohne den kein Live-Set mehr vorstellbar ist, ohne den die Fans nicht das Gefühl eines rundum abgeschlossenen Abends haben. Meistens versucht eine Band irgendwann, wenn sie den “einen” Song über hat, ihn mal nicht mehr live zu spielen. Dann rebellieren die Fans, dann ärgert man sich und sagt “Aber wir haben ganz viele andere tolle Songs, die mögt ihr doch auch!”, dann resigniert man, spielt ihn eventuell doch wieder und dann kommt irgendwann die Akzeptanz. Ich finde, DIARY OF DREAMS haben da eine gute Lösung gefunden, wie sowohl das Publikum als auch sie selbst noch Spaß an ihrem alten Hit haben können: Sie spielten ihn in einer reduzierten Piano-Version. Und da waren sie dann auch: Die letzten Gänsehautomente des fulminanten, samtschwarzen Abends, als der ganze Saal mitsang “Hast du noch nie geseh’n, wie meine Augen glitzern?”.
Auch DIARY OF DREAMS bedankte sich natürlich zum Tourabschluss nochmal bei allen Beteiligten und auch bei der Merchdame Lana, die fast vergessen worden wäre, erwähnt zu werden. Wir erhielten dann auch die Bestätigung für die gefühlt größeren und volleren Hallen. Adrian Hates bestätigte, dass die nun endende Tour die erfolgreichste in der Bandgeschichte gewesen war. Nun, diesen Erfolg gönnt man dieser außergewöhnlichen Truppe von ganzem, gebrochenem Herzen! Es gibt genug Einheitsbrei da draußen, ja auch in der Schwarzen Szene. Wir brauchen Ausnahmekünstler wie diese, die auf die Bühne gehen und mit Ihren Stimmen und Instrumenten unsere alten Wunden aufbrechen und an die Luft holen. Damit wir sagen können: Ja, ich habe Schmerzen, ja ich leide an diesem Leben und ja ich zeige das jetzt hier und heute. Aber ich bin noch da! Jeder Anwesende auf dieser fulminanten Tour konnte seinen eigenen, ganz persönlichen Eintrag in das Tagebuch der Träume machen. Die Tinte ist getrocknet, das Buch wird geschlossen und gut verwahrt, bis es wieder glitzernde Augen und stampfende Rhythmen geben wird!

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Fotos: Anja P.
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