RELOAD FESTIVAL 2022, Tag 1 – „Dune RELOADed”

In einem Zelt auf dem Campground, da lebte ein Redakteur. Und es war kein Zelt mit selbstaufblasendem Boden, vestalischen Jungfrauen die geschälte Trauben servieren und für nimmerendenden Bierfluss sorgen. Es war das Zelt eines Musikjournalisten – und das bedeutete, dass er Rückenschmerzen hatte. Aber werfen wir zunächst einen Blick aus dem Zelt hinaus auf die Umgebung: 

Das RELOAD FESTIVAL, gelegen im 50km von Bremen entfernten, beschaulichen Sulingen, genießt unter den Festivals im norddeutschen Raum einen gewissen Exotenstatus. Im ländlichen Umfeld gelegen, können sich die Veranstalter nicht nur einer tatkräftigen Unterstützung durch lokale Bevölkerung und Industrie rühmen wie dereinst ein gewisses anderes großes, norddeutsches Hartmusikfestival, bevor man dort auf gnadenlose Vollverkommerzialisierung umstellte. Auch das Billing ist in jedem Jahr für die eine oder andere Überraschung gut – denn die in diesem Jahr von den Bookern des RELOAD geschmackvoll kuratierte Mischung aus Metal, Kult und Core sucht in der deutschen Festivallandschaft wieder einmal ihresgleichen. 

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Fotos: Doctor Hentai

Hier nun fand sich besagter Berichterstatter nun also inmitten grob 12.000 Gleichgesinnter wieder, um nach zweijähriger Abstinenz endlich wieder das Festival zu genießen (sowie möglicherweise einige Portionen der örtlichen Spirituose „Bullenschluck”, die gegen Lahmheit bei Nutztieren und zur innerlichen Einreibung auch beim Menschen empfohlen wird). Am Donnerstag blieb das eigentliche Infield noch geschlossen, so dass auf dem Vorplatz mit der sogenannten „Plaza Stage” bereits eine vollwertige wenn auch kompakte Bühne bereit steht. Zusätzlich diverse Bier- und Fressbuden, ein Kettenkarussell, ein mit Met und Mittelalterspirituosen beladener Getränkestand in Drachenschiff-Design sowie die Dusch- und Toilettenmeile „Shit City”. Lobenswert ist den Organisatoren des RELOAD anzustreichen, dass der komplette Vorplatz frei zugänglich war. Bändchen und Eintrittskarten wurden nicht benötigt, die Sulinger und Bewohner des Umlands konnten sich die Bands auf der kleinen Bühne vollkommen kostenfrei anschauen. So schien das bereits gegen Mittag zahlreich und durstig angereiste Volk bereits in die richtige Stimmung/auf den richtigen Pegel zu kommen. Dumm nur, dass man sich seitens der externen Standbetreiber für die Nahrungsversorgung sträflichst verkalkuliert zu haben schien – aber hierzu später mehr.

Um 14:05 betrat mit den Wienern BLACK INHALE die erste Band die Bretter und eröffnete den Reigen mit einer knarzigen Portion modern angehauchten Thrash Metals inklusive angetäuschter Groovekante. Das knüppelige Gebräu wusste nun auch die ersten Nasen vor die Bühne zu locken, konnte aber die zum größten Teil eher mainstreamrockenden Eingeborenen, aus denen das Publikum zu diesem Zeitpunkt bestand, nur bedingt zu körperlicher Bewegung animieren. Trotzdem hagelte es nach durchgestandenem Set ob der musikalischen Klasse des Vierers weit mehr als nur einen Achtungsapplaus. 

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Fotos: Doctor Hentai

Schon besser rezipiert wurden die transsylvanischen Tunichtgute von DIRTY SHIRT. Wo Ottonormalmetalhead bei dem Bandnamen wohl zuerst an eine drittklassige AC/DC-Coverkapelle denkt, trumpften die in bester Spiellaune eskalierenden Rumänen mit einer Crossovermischung auf, die man wohl am ehesten als slavobalkanischen Klezmercorefolk beschreiben könnte – Punk-Attitüde, wilde Geigen, tanzbarer Beat, gleich zwei hyperkinetische Frontmänner und osteuropäisch angehauchte Leadmelodien weckten Reminiszenzen an einen Bastard aus Gogol Bordello auf Speed und einer Jiddischen Ska-Kolonne, die das Publikum gnadenlos anheizte und mehr als einen schweißgebadeten Zuschauer hinterließ, nachdem von Song zu Song das Tempo immer weiter aufgedreht wurde. Da ist es schon fast positiv, dass sich durch technische Probleme der Auftritt der Folgeband etwas verzögerte, denn mittlerweile waren nicht nur die Temperaturen so hoch, dass manch einer sich dem unbarmherzig brennenden Gasball am Firmament nur noch ungern aussetzte, sondern auch der Staub auf dem Platz auf dem besten Weg zu einem Frank Herbert-Tribute. 

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Fotos: Doctor Hentai

Bevor man jedoch mit einem Ornithopter vor dem anrückenden Shai-Hulud gerettet werden musste war es dann endlich soweit und mit ca. 20 Minuten Delay wetzten die stilecht in einem ranzigen Transporter voll Merch angereisten Briten von WARGASM ihre akustischen Crysmesser. Das durch Livemusiker verstärkte Duo bestehend aus Sam Matlock an Gitarre und Vocals sowie Milkie Way an Bass und ebenfalls Mikrofon wird in UK seit Monaten als „das nächste große Ding angepriesen” und brachialknarzte sich durch eine wüste Mischung aus Electronica, Post-Rock, Noise und Nu-Metal mit einer gehörigen Kelle Punk als Wurzel des Ganzen in Musik und Auftreten. Model Milkie brachte mit ihrem überaus spärlichen Bühnenoutfit (schwarzer Mini-Bikini, Patronengürtel und Kampfstiefel) die Hormone der Crowd auf 180, und spätestens als Sam unschuldig die Frage „Do you know what a moshpit is?” stellte, war alles verloren. Dichte Staubwolken stiegen vor der Bühne auf, die Menge geriet außer Rand und Band.

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Fotos: Doctor Hentai

Der Journalist flüchtete zu diesem Zeitpunkt aus dem Fotograben, um seine Kamera einer Notfallreinigung zu unterziehen und eine Pommes zu erlegen. Dummerweise gab es allerdings an den Food-Buden diese spezielle Form der Festivalnahrung überhaupt nicht zu ergattern. Der Weltuntergang war zwar nicht nah, aber ein Festival ohne Frittenbude ist zumindest ungewohnt – also wieder zurück zur Bühne, wo BORN FROM PAIN nur darauf warteten, uns eine heimtückisch groovende Core-Walze bestialischen Kalibers direkt in die Schnauze zu drücken. Auch wenn Sänger Rob Franssen mit weißem Shirt und Anglerhut ein wenig wie ein verirrter Mallorca-Tourist wirkte ließen er und seine grimmig daherschauenden Mitknüppler keinen Zweifel daran, dass jetzt erstmal die Keule regiert. Mittlerweile war aus der Staubwolke vor der Bühne eine permanente Installation geworden, die von gelegentlichen Circle-Pits immer wieder erweitert wurde – hatte da hinten gerade jemand “Muad’Dib” gerufen?! 

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Fotos: Doctor Hentai

Nach so viel geballter Aggression war erst einmal Abwechslung nötig, und so wurde nach einer kurzen Umbaupause (das Delay bei den Bands betrug nun ca. 20 Minuten) die Bühne mit den zahlreich erschienenen MR. IRISH BASTARD merklich voller. Die eigenwillige Mischung aus Folk, Punk, Rock’n’Roll und garstigem Hawaiihemd des namensgebenden Sängers ging latenzfrei in Blutbahn und Beine, hielt die Staubwolke auf konstantem Niveau und begeisterte zum Entsetzen der noch immer anwesenden Normalbürger sogar mit gelegentlich eingestreuten Deathgrowls, während der Freak-Accident-Faktor so weit anstieg, dass der hier berichtende Schreiberling im Fotograben vor der Bühne fast von einem Crowdsurfer im Ganzkörper-Gorillakostüm (mit blankem Hintern) erschlagen wurde.

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Fotos: Doctor Hentai

Weiter ging’s mit WATCH OUT STAMPEDE! Die Bremer bestachen nicht nur durch intelligent arrangierten Postcore mit Metal-Einschüben sondern zelebrierten auch so etwas wie ein Heimspiel – schließlich hatte man sich vor Jahren auf genau diesem Festival zusammengefunden, was von Fronter Ando Hildebrandt verhasplerisch als der “Unsprung” der Band festgestellt wurde. Lange Rede, kurzer Sinn: Das Heimspiel geriet zum Triumphzug, der Flugverkehr in Richtung Bühne nahm so bedenklich zu, dass die Securities kaum mit dem Herauswerfen der Crowdsurfer aus dem Fotograben hinterher kamen und spätestens jetzt waren imperiale Sardaukar am Horizont auszumachen.

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Fotos: Doctor Hentai

Die drohende Invasion der Harkonnen konnte jedoch durch das rechtzeitige Erscheinen der Metalcore-Urgesteine UNEARTH abgewehrt werden. Der Massachusetts-Fünfer zockte sich in optisch imposantem Sonnenuntergangslicht durch ein Greatest-Hits-Set von den frühen Melodeath-Ursprüngen bis hin zu thrashigeren aktuellen Granaten und ließ dabei auch das in Deutschland die Band seinerzeit etablierende “Zombie Autopilot” auf die Zuschauerschaft los. Diese war inzwischen bereits so sehr angewachsen, dass sich selbst der Weg zu einer Bierbude wie eine Reise zu Fuß zum nächsten Sietch ohne Distillanzug anfühlte, Massen an Bodysurfern waren mittlerweile zum Standard geworden – es schien als ob die Stimmung nicht mehr zu toppen war.

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Fotos: Doctor Hentai

Falsch gedacht, denn was die Neu-Delhi-Connection mit dem Namen BLOODYWOOD nun vorlegte, war mit Fug und Recht als totaler Abriss zu bezeichnen. Die Inder konnten mit ihrem Misch aus auf westliches Empfinden abgespecktem Folk ihrer Heimat und krachendem Nu Metal plus einer gehörigen Portion Humor und Dragonball Z-Verweisen auf allen Ebenen punkten. „Aaj”, „Machi Basad”, „Gaddaar” – die Perlen ihres Debütalbums „Rakshak” verwandelten den Bühnenbereich in einen Hexenkessel, in dem sich die dauergrinsenden Musiker bis zur Erschöpfung austobten. Vom peitschenden Trommeln auf der Dhol bis hin zum aggressiven Flötensolo auf der Bansuri saß jeder Ton perfekt und walzte über die Menge. BLOODYWOODS Ruf als eine der aktuell heißesten Bands auf dem Festival-Circuit stellte sich als mehr als verdient heraus und bildete für viele die große Überraschung des Tages. 

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Fotos: Doctor Hentai

Obwohl mittlerweile die Nacht über Arrakis hereingebrochen war, konnte man an zitternde Kälte noch lang nicht denken. Angetäuschter Frieden durch ein vom Band eingespieltes “In The Air Tonight” aus dem Hause Phil Collins stellte sich schnell als trügerisch heraus; bereits beim Opener und Titelsong des aktuellen Albums „Heavy Steps” der HC-Institution COMEBACK KID der Hammer geschwungen, der im mittlerweile zwanzigsten Jahr des Band-Bestehens noch immer keine Energie vermissen ließ. Ganz im Gegenteil punktete das Quintett aus Winnipeg mit Agilität und einem bestens aufgelegten Frontmann Andrew Neufeld, der nach sorgfältigem Abschätzen der Mikrofonkabellänge auch schon einmal die Bühne verließ und auf Kuschelkurs mit der ersten Reihe ging. Es wurde nicht nur das aktuelle Album bespielt sondern auch genügend Raum für die alten Klassiker bis hin zum krönenden Abschluss mit dem Standard-Rausschmeißer „Wake The Dead” gelassen, was durch starke Reiselust des Publikums gen Bühnengraben und – natürlich – noch mehr Staub honoriert wurde.

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Fotos: Doctor Hentai

Der Folgeact BLEED FROM WITHIN zieht derart viele Leute zur Bühne, dass auf dem Weg zum Bierstand gerüchteweise einige Leute im Stau stecken bleiben, Bestseller schreiben oder eine Familie gründen. Zu Recht, wohlgemerkt – denn das Glasgower Metalcorekommando gibt heut alles, was vom Publikum mit sofortiger Pit-Bildung honoriert wird. „Pathfinder”, „Ascend”, „Fracture” und weitere Hits gönnen dem Publikum keine ruhige Minute, bevor der Gig mit einer alles vernichtenden Version von „The End Of All We Know” beschlossen wird. Respekt!

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Fotos: Kevin R. Emmers

Die Show stehlen letztendlich jedoch nicht nur optisch die für The Black Dahlia Murder ins Billing gerutschten JINJER. Mit einem Backdrop bestehend aus dem Bandnamen in den Farben der heimatlichen Flagge sowie einer in blau und gelb gehaltenen Lichtshow schaffen die Ukrainer Aufmerksamkeit für die schwierige Situation in ihrer Heimat, was auch durch zahlreiche Ukraine-Wimpel im Publikum reflektiert wird. Das Set lässt kaum Wünsche offen: „Teacher, Teacher” macht den Anfang, im weiteren Verlauf gesellen sich noch Granaten des Kalibers „Pit Of Consciousness” oder „Perennial” hinzu. Fronterin Tatjana wird durch einen hautengen Anzug mit aufgesetzten Cyber-Style-Linien und Schwarzlichtbeleuchtung sowie ein hierdurch ebenfalls in Szene gesetztes Neon-Make-Up über den Augen noch einmal mehr zum absoluten Blickfang in Tron 3.0-Optik, und gemeinsam zelebriert man 90 Minuten feinstes Groovegebolze. Wo JINJER draufsteht, ist auch JINJER drin, und so zieht am Ende niemand enttäuscht von dannen, ausgepowert und glücklich bewegt sich die Masse gen Schlafplätze. Selbst die Staubwolke ist im Dunkeln nicht mehr sichtbar, aber eines wird sich auch am kommenden Tag nicht ändern: Das Spice Der Schweiß muss fließen!

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Fotos: Doctor Hentai

 

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