M’era Luna 2020 – Der Bericht aus einem Paralleluniversum
“M’eeeeraaa Luuunaaaaa!!”
Schon bei dem Gedanken an den bekannten Schlachtruf, der jeden Freitag am 2. Wochenende im August erschallt, biegen sich automatisch meine Mundwinkel nach oben. Ich rieche schon den Staub, der über den Flugplatz weht, spüre die Hitze, die mich beim Zeltaufbau erbarmungslos röstet und schmecke das erste kühle Bier, wenn die Pflicht des Camp-Aufbaus in die Kür des Festivallebens übergeht…
Doch 2020 ist alles anders.. denn das große C, das seit März diesen Jahres Köpfe und Medien bevölkert, machte den Traum vom geliebten Festival dieses Jahr zu einem Alptraum. Küstler, Angestellte und Veranstalter hofften und bangten, ebenso wie die abertausende von Fans bis zuletzt, doch dann hieß es: M’era Luna 2020+365 Tage.
Doch man sagt ja, dass kaum etwas so schön ist, wie die Vorfreude und so fahre ich heute die – für mich kurze – Strecke von Hannover nach Hildesheim und lasse mich auf ein Experiment ein. Lasse Realität mit Erinnerungen und Vorfreude einen schönen Tagtraum verschmelzen und während mein kleiner Honda über die Autobahn flitzt, verschwimmt die Welt in der Gluthitze von 36 Grad Außentemperatur und ich bin wieder auf dem Weg zum heiligen Acker der Gruftikultur…
Schon kurz vor der Ausfahrt “Hildesheim Drispenstedt” denke ich: “Kein Stau, kein Stau, bitte bitte kein Stau..” YES! die Einfahrt ist noch frei. Perfektes Timing, denn bei M’era Luna gilt am Freitag die Regel mit dem frühen Wurm. Per Telefon und Whattsapp werden die Mitcamper in anderen Autos instruiert und zum Treffpunkt geleitet. Alle Mann in die Schlange, jeder ein Zelt.. Strategie ist alles. Meist hat der Wettergott ja ein Einsehen, heute zeigt das Thermometer schon um 10 Uhr morgens knapp 30 Grad. Da wird das erste Erfrischungsbier schon mal vor dem Aufbau gekillt. Sobald man den Einlass passiert und sein Bändchen gesichert hat macht das Herz jedes Mal einen riesigen Satz vor Freude.. ein Gefühl wie nach Hause kommen, etwas, dass nur Festivalbesucher verstehen können.
Schnell wird das Camp errichtet, voll Stolz die Camp-Flagge gehisst und der Camp-Bürgermeister begrüßt die Crew mit selbstgemachter Bowle zum anstoßen. Währenddessen läuft sich das Handy heiß, weil Freunde und Bekannte aus ganz Europa und noch weiter eintrudeln und auf sämtlichen Kanälen die wichtigste Frage des ersten Tages stellen: “WO BIST DU??”
Nach der ersten Begrüßungswelle, der erste Ausflüg in Richtung Gelände. Das M’era Luna hat nicht umsonst den Spitznamen “Familientreffen”. Der eigentlich überschaubare Weg bis zum Vorplatz dauert eine knappe Stunde, weil man an jeder Ecke bekannte Gesichter trifft. Auf den Bierbänken mache ich es mir gemütlich, vernetze meine verschiedenen Bekanntschaften. Da schwatzt Wortjongleur Carsten aus Dortmund mit der hübschen Ärztin Mirja aus Hannover, Freundin Yonit ist extra aus Israel angereist. Ein wunderbarer Platz voll wunderbarer Menschen. Am Abend verbringen wir Zeit auf dem süßen kleinen Mittalaltermarkt, wo Händler und Akteure schon ihr Bestes geben, um uns zu unterhalten. Dann Chillout im Camp, denn morgen gehts ja erst richtig los.
Ich erwache meist am Samstag morgen mit sehr viel mehr Katergefühl als erhofft. Dank der wandernden Kaffee-Händler in ihren Ghostbusters-Anzügen brauche ich mich aber für die erste Dosis “Leben aus der Tasse” nicht vom Camp wegzubewegen. Irgendwie möchte man trotz Dröhnschädel auch die Newcomer unterstützen und so findet man sich um 11 Uhr zur Eröffnungsshow vor der Bühne ein und versucht den Bands ein bisschen Support zu geben. Danach fix wieder zum Zelt und erstmal richtig hübsch machen. Danach wird der Timetable gechecht, die M’era Luna-App programmiert und es geht los zum Gelände. Auch hier wieder zahlreiches “Hallo!”, einiges an Zeitverzögerung und das obligatorische “nur mal kurz gucken” an den ersten Merch-Ständen, die man eigentlich erst viel später besuchen wollte. Dann zur Bühne, der Bass dröhnt – Glücksgefühle pur! Im Graben die fleißigen Fotografen am Werk, Dani’s Rotschopf flitzt überall herum, Helge überragt alle durch seine größe wieder alle. Ich mag diese vetrauten Anblicke. Ab und an der Ausflug zum Bierstand, während man den Nachmittag zwischen Hangar und Mainstage wechselt. Aber was ist schon Nachmittag? Auf dem M’era Luna gibt es eine andere Art von Zeitrechnung. Von Konzert zu Konzert, nur “hell” und “dunkel”. Schneller als man denkt ist es nämlich plötzlich dunkel. Der Abend klingt auf der Hauptbühne in einem Lichtermeer und brandendem Applaus aus. Fix noch einen Abendsnack – das Knoblauchbrot vom Mittelaltermarkt ist ungeschlagen köstlich, macht seinem Namen aber auch alle Ehre. Schnell alle Freunde probieren lassen, damit man nicht alleine stinkt.
Dann begebe ich mich auf den Weg zum Zeltplatz. Auf den Wegen dorthin feiern tausenden Menschen eine friedliche Party zwischen Zelten, Fressbuden und Dixiklos. “Bist du nicht Chrissi aus Österreich?” frage ich eine entfernt vertraut wirkende Frau in der Schlange neben mir.. sie ist es. So bekommen dann Facebook-Bekanntschaften plötzlich auch ein reales Gesicht. Eine andere Frau erzählt mir in der Warteschlange am Bierstand, dass sie grad mit dem Auto von Russland nach Portugel reist, um dort ihre Familie zu besuchen und auf dem M’era Zwischenstopp macht. Der Wahnsinn, hier kommt echt die Welt zusammen. Im Camp sitzt plötzlich Kumpel Marvin vom anderen Ende Deutschlands, den ich noch gar nicht gesehen hatte zwischen meinen Freunden. “Ihr kennt euch??” “Jetzt schon!” Auch das geht hier wunderbar einfach. Ich wünschte oft, das Leben hätte im Alltag ein paar mehr “M’era-Momente”.
Sonntag morgen kommt auch schneller als gedacht und zu der Lesung, die ich gern sehen wollte kann ich nur mit einer großen Sonnenbrillle gehen. Wer hat dieses Mischgetränk gestern gemacht? Die Lesung mit musikalsicher Begleitung ist ein Traum und entlässt mich wunderbar relaxt in den Tag. Auch die ersten Konzerte tun ihr Bestes, um mein Gute-Laune-Niveau ganz oben zu halten. Mit der Lieblingsfreundin erst träumen bei Diorama, dann wild springen bei Schandmaul. So vielfältig wie mein Musikgeschmack ist auch dieses Festival. Einer der Gründe, warum es mich Jahr für Jahr hierher zieht. Am Autogrammzelt stehe ich kurz an, um ein Bild mit meiner Lieblingsband zu ergattern. Die freundliche Frau von Sharpshooter Pics bittet mich um ein Interview, ein fremder Mann lächelt mich an und reicht mir ein Bier. “Einfach nur so” grinst er, stößt mit mir an und geht. Im Laufe des Nachmittags sehe ich wunderbare Modenschauen, tolle Konzerte und über 20.000 Menschen aus aller Welt, die zusammen feiern. Sich, ihre Szene, das Leben in diesem kurzen Moment der Ewigkeit. Als am späten Abend der offizielle Teil des Festivals mit einem Feuerwerk aus Musik und Show beendet wird und die letzten Töne verklingen ist da immer dieses kleine, komische Gefühl im Magen “Nein, bitte bitte noch nicht.. das KANN noch nicht zuende sein”. Ich laufe über die Straßen zum Zeltplatz. Es wird getrommelt, gesungen, gefeiert. “M’eeeera Luuunaaaa..” schallt es aus hunderten Kehlen. Ich setze mich zu meinen Freunden.. wir erzählen uns Geschichten aus dem letzten jahren, trinken zusammen und sind uns einig – nächstes Jahr wieder hier. Wer bestellt MOntag gleich die Karten? Mit diesem Gedanken und einem tiefen Gefühl von Friedlichkeit und DAnkbarkeit krieche ich irgendwann in mein Zelt, während ich die leisen Stimmen meiner Freunde noch bis in die Morgendämmerung hinein brabbeln höre…
MÖÖÖÖÖÖP! Ein fetter Mercedes hupt mich an und überholt dann. Stress und Wut im Gesicht des Fahrers. – Welcome to reality –
Ich lächle ihn an, drehe mein Autoradio lauter – “Until the end of the world” von Apoptygma Berzerk. Ich biege heute nicht nach Drispenstedt ab. Der kleine Flugplatz wird leer sein, nur von ein paar Maschinen bevölkert, braun und trist. Nein, ich fahre weiter gradeaus, zu meinen Freunden. Sie haben Bier kalt gestellt, eine Playlist gebastelt und Erinnerungen rausgekramt. Wir werden uns zusammen setzen und uns bis morgen früh Geschichten vom M’era Luna erzählen und uns ansehen und wissen, wie sehr wir uns daraus freuen.. bald.. nur noch 365 Tage…