Interview: David Anderson von THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA 

Eigentlich sollte das Interview auf dem Gig in Nürnberg erfolgen, der jedoch leider auf Grund der bekannten Umstände verschoben wurde. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben, schließlich leben wir ja im 21. Jahrhundert und via Video-Call konnten wir das Gespräch mit dem sympathischen Gitarristen der Band nachholen!

Hallo David! Wie geht es dir? Hast du genug Klopapier?

David: *lacht* Ja, mir geht es gut und Klopapier habe ich auch genug! Wir haben genug Bäume in Schweden, deshalb wird uns so schnell wie euch in Deutschland das Klopapier nicht ausgehen!

Herzlichen Glückwunsch erst einmal. Euer neuestes Album ‚Aeromantic‘ ist in Deutschland auf dem 13. Platz der Albumcharts eingestiegen. Habt ihr mit einer so hohen Chartplatzierung gerechnet?

David: Mit dem Vorgängeralbum sind wir auf Platz 15 gelandet, von daher kam das nicht ganz unerwartet, aber trotz allem ist das schon überwältigend. Wären das die Achtziger Jahre gewesen, dann wären wir jetzt Millionäre! *lacht*
 Ja, es ist schon fantastisch, da gerade Deutschland den größten Markt für unsere Musik stellt. Scheinbar haben wir etwas an uns, das den Deutschen gefällt!

Die Deutschen haben schon lange ein Herz für schwedische Musik, spätestens seit ABBA! Ihr hattet tatsächlich die Chance, für die Aufnahmen zu ‚Aeromantic‘ das Original-Schlagzeug zu ABBAs Album ‚Super Trouper‘ zu nutzen. Wie kam es dazu?

David: Wir nehmen unsere Alben in einem Studio der schwedischen Kleinstadt Skara auf. Der Besitzer ist zufällig der Cousin unseres Schlagzeugers und war ein renommierter Session-Drummer in den 80er Jahren. Damals lernte er den ABBA-Schlagzeuger kennen und erwarb das Drumkit der ‚Super Trouper‘-Aufnahmesession.
 Als er uns anbot, das Schlagzeug zu benutzen, kam somit eins zum anderen.

Mit jedem neuen Album steigert sich eine Band. Ihr habt nun schon den Nachthimmel des Classic Rock-Genres für euch vereinnahmt – wieviele Alben wird es noch benötigen, um ins Weltall durchzustarten?

David: Wir entwickeln uns als Band stetig weiter und wollen auch mit jedem Album einen Schritt vorangehen. Wohin das noch führt? Also, der Weltraum wäre schon eines unserer erklärten Ziele! *lacht*

Seit einigen Jahren ist im Musikbusiness ein Revival von Classic Rock und AOR zu beobachten. Bands wie GHOST erreichen mittlerweile schon den Bereich des Mainstreams. Wie würdet ihr euer Publikum beschreiben?

David: Als wir angefangen haben, hatten wir quasi noch kein eigenes Publikum. Es waren hauptsächlich Fans von SOILWORK und ARCH ENEMY (die Nebenprojekte einiger Bandmitglieder 😉 ), die auf unsere Shows gekommen sind, weil sie neugierig auf uns als neue Band waren. Mittlerweile haben wir ein breit gefächertes Publikum. Viele Metalfans, aber auch jüngere, die mit Metal nicht viel am Hut haben. Natürlich ist es unser Ziel, langfristig ein breites Publikum anzusprechen und damit Erfolg zu haben. Jedoch ist es nach wie vor schwierig, da viele uns noch zu stark mit der Metalszene assoziieren. Wir schätzen weiterhin unsere Fans aus der Metalszene, schließlich sind Metaler sehr loyale Fans. Darüber hinaus möchten wir zudem auch Fans mit unterschiedlichen musikalischen Hintergründen erreichen, und ich denke, dass wir dazu auch durchaus Potential haben.

Euren ersten Auslands-Gig habt ihr 2017 auf dem RockHard-Festival absolviert, wo ihr dieses Jahr eigentlich auch wieder hättet auftreten sollen. Habt ihr das Gefühl, mittlerweile verstärkt als Band wahrgenommen zu werden, und nicht als Nebenprojekt von SOILWORK und ARCH ENEMY?

David: Für uns war THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA von Anfang an eine Band. Schon zu Beginn, als wir unsere erste Platte bei einem kleinen italienischen Label veröffentlicht hatten. Ich denke, auch wenn wir nicht bei Nuclear Blast unterschrieben hätten und keine Auslandshows hätten spielen können, wir würde uns trotzdem wie eine Band fühlen, weil wir gemeinsam die Musik spielen, die wir lieben und einfach Spaß daran haben, zusammen zu sein.

Vor sechs Wochen war euer Tourauftakt zur ‚Aeromantic Experience‘-Tour. Im Tourmerch hattet ihr in Anspielung auf das Cover der ‚Never mind the Bollocks‘ von THE SEX PISTOLS ein Tourshirt mit dem Aufdruck ‚Never mind the Virus‘. Wie denkt ihr mittlerweile über diese Merch-Idee?

David: Zu dem Zeitpunkt, als die Idee zu dem Shirt aufkam, hatte keiner eine Vorstellung, in welchem Rahmen sich das Ganze weiterentwickeln würde. Das Shirt sollte nicht als lustige Verharmlosung des Virus angesehen werden, sondern eher ein Dankeschön mit Augenzwinkern an die Fans, die trotz der aufkeimenden Unruhe zu unseren Shows kommen wollten. Die Entwicklung der Corona-Pandemie war mit ihren Ausmaßen, wie wir sie jetzt erleben, Ende Februar nicht absehbar.

Vorletzten Samstag habt ihr ein Konzert bei euch in Helsingborg im Tivoli gegeben. Die Kontaktsperre in Schweden ist nicht so rigoros wie in anderen europäischen Staaten, aber trotzdem war dies ein Ghost-Gig, der für die Fans an den Facebook Live-Streams raus ging. Habt ihr euch dafür speziell vorbereitet, oder seid ihr einigermaßen im Tour-Modus auf die Bühne gegangen?

David: Auf der einen Seite ist es natürlich etwas ganz Neues für uns gewesen, andererseits haben wir schon so viele Shows miteinander gespielt. Wenn man da einmal drin ist – wir sind ja über einen längeren Zeitraum zusammen gewachsen – dann fühlt es sich trotzdem natürlich an. Wir haben schon viel miteinander durchgemacht, kennen uns sehr gut und wenn wir die Bühne betreten, schlüpfen wir quasi in unsere Persönlichkeiten als Performer und es fühlt sich gut an. Es stand zwar niemand im Publikum, aber ich glaube, es war eine unserer großen Shows bisher!

Wie viele Zuschauer hattet ihr in dem Stream zu Spitzenzeiten?

David: Das ist schwer zu sagen. Ich glaube, das müssten 3000 Zuschauer und mehr gewesen sein, aber um ehrlich zu sein, kann ich die Zahlen, die über die Social Media-Kanäle erfasst und wiedergegeben werden, nicht richtig interpretieren. Aber ich ich gehe davon aus, dass wir eine gute Show geliefert haben.

Von unserer Seite können wir das absolut bestätigen! 
Ihr lebt ja in Schweden und die schwedische Regierung hat angesichts der Corona-Pandemie keinen harten Lockdown wie andere Länder der EU beschlossen und setzt viel auf die Eigenverantwortlichkeit der Bürger. Wie stehst du zu dieser Haltung?

David: Ich bin Mediziner und arbeite als Doktor in einem der größten Krankenhäuser Stockholms. Angesichts der vorherrschenden Situation muss man dieser mit Besonnenheit begegnen. Keiner weiß, was gerade richtig ist, das wird im Nachhinein die Zeit zeigen. In den Statistiken schneiden wir gerade nicht gut ab. Unser größtes Anliegen sollte es sein, die älteren Mitmenschen und jene mit Risikofaktoren zu schützen.
Ich fahre täglich mit den Öffentlichen zur Arbeit, und war gerade erst drei Wochen krank. Ich gehe davon aus, dass es Corona war. Es geht mir jetzt wieder gut und müsste nun immun sein. Wir sind gerade in einer zu unseren Lebzeiten noch nie da gewesenen Situation, und sollten dieser mit entsprechender Vorsicht begegnen. 
Wir Schweden sind vom Wesen her schon eher etwas distanzierter, und jedes Land hat seine Regeln zum Lockdown nach eigenem Ermessen gefällt. Ich vertraue dem Beurteilungsvermögen der schwedischen Behörden. Im Endeffekt werden wir erst wissen, was richtig und was falsch war, wenn das Ganze vorüber ist. Langsam habe ich es jedoch satt, dass jeder ohne medizinischen oder wissenschaftlichen Hintergrund meint, zu diesem Thema etwas zu sagen zu haben. Ich bin Mediziner, habe einen Doktortitel, auch einen Ph.D., und selbst ich maße es mir nicht an, zu beurteilen, was in dieser Situation richtig und falsch ist. Wir hatten nie die Zeit und Gelegenheit, um fundierte Forschungen bezüglich der aktuellen Geschehnisse zu betreiben, um die Gesellschaft vor gesundheitlichen Gefahren einer Krankheit wie dieser zu schützen. Ich denke, dass wir in eventuell einem Jahr von nun an erst richtig abschätzen können, was richtig und falsch ist. Momentan kann das niemand sagen. Also bleibt uns nur abzuwarten und auf höflicher Distanz zu bleiben.

Die Auswirkungen auf das kulturelle Leben sind derzeit immens. Wie wird die Musiklandschaft wohl nach Corona ausschauen?

David: Momentan ist ja alles auf Eis gelegt und auf eine späteren Zeitpunkt verschoben. Aber es wird sicherlich die Art und Weise, wie wir in Zukunft reisen oder miteinander interagieren werden stark beeinflussen. Es ist derzeit katastrophal, jedoch vielleicht zwingt uns diese Situation zum Umdenken, damit wir nicht mehr so viel für selbstverständlich erachten. Auf globaler Ebene betrachtet wird sich einiges ändern müssen! Gerade im Bezug auf Reisen. Muss man denn jedes Jahr als Urlaub eine Fernreise machen? Auch das Thema Nachhaltigkeit könnte schon jetzt wieder in den Vordergrund und ins Bewusstsein gerückt werden. Die Welt wird danach eine andere sein – hoffen wir, dass sie eine bessere sein möge. Im Bereich der Musik- und Kulturlandschaft ist es jetzt an der Zeit, an neue kreative Lösungsansätze heranzugehen. Die komplette Musikindustrie ist jetzt einem Wandel unterworfen, da sie sich ja hauptsächlich auf den Live-Sektor konzentriert. Es wird interessant zu sehen, wohin das nun alles führt.

Ich muss gestehen, ich fühle mich gerade ertappt, da ich meinen Jahresurlaub für gewöhnlich in Asien verbringe. Dort sieht man in den großen Städten seit Jahren die Bewohner – zwar meist wegen Smog – mit einem Mund-Nasen-Schutz herumlaufen. Ob zukünftig ein Mund-Nasen-Schutz auf Konzerten getragen wird? Und wäre das nicht eine neue Merch-Idee?

David: Ich persönlich halte nicht viel davon, in der Öffentlichkeit einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen. Aber angenommen, der Ausbruch des Virus ist wirklich auf den vermuteten chinesischen Tiermarkt zurückzuführen – welche Lehren ziehen wir daraus? Es wäre phänomenal, wenn wir Menschen als Gesamtheit aus dem Ganzen etwas lernen. In jeglicher Hinsicht! 
Und wir machen wohl erstmal kein Merch mehr mit viralem Hintergrund!

Nachdem die Festivalsaison 2020 vorbei ist, bevor sie angefangen hat, wie sieht es aus mit Alternativplänen für den Sommer?

David: Ich arbeite weiter im Krankenhaus. Wir haben allerdings wieder mit  THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA einiges an neuem Material aufgenommen. Auch mit SOILWORK haben wir wieder neue Sachen produziert. Also machen wir weiter das, was wir lieben – kreativ sein! Wir werden auch weiter spielen, allerdings vorerst erst auf dem Bildschirm. Wir bleiben weiterhin aktiv. Auch wenn ich nicht Musik machen muss, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen, ich muss Musik machen, um geistig gesund zu bleiben! Eines der großen Themen von THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA ist es ja, sich der Realität zu entziehen, und vielleicht schaffen wir es, auf unsere Art und Weise mit Musik als Realitätsfluchthelfer zu fungieren.

Als eifriger Konzertgänger ist es aber auch schon ganz schön surreal, einen Gig vom Sofa aus zu betrachten. Man versucht, sich auf die Vorteile zu konzentrieren, die diese Situation mit sich bringt. Also während des Konzertes auf der Couch seine Lieblingspizza essen zu können, und nicht vor dem Konzert die totgegrillte Bratwurst vom Imbiss neben der Location. Trotzdem können wir es schon kaum mehr erwarten, wieder Teil eines Publikums vor der Bühne zu sein!

David: Das kommt sicherlich alles wieder! Ich bin Schwede, ich komme ursprünglich aus einer Kleinstadt, und wir sind eigentlich von Natur aus pessimistisch veranlagt. Es wird alles seine Zeit brauchen, aber ich denke auch, dass es schon wieder alles wird!

Eine pessimistische Grundeinstellung hat ja auch seine Vorteile. Man wird nicht so schnell enttäuscht und hat eine größere Chance, positiv überrascht zu werden!

David: *lacht* Oh ja! Alles was mir Gutes widerfährt, ist eine angenehme Überraschung!

 

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