Kiezgeschichten mit Chris von Ohrenfeindt
Sonntagmorgen um fünf in Hamburg, auf der Reeperbahn, man sollte meinen, einer der belebtesten Orte der Stadt um dies Uhrzeit, doch an diesem Morgen ist alles anders. Es herrscht die Angst vor Corona in der Stadt und auf dem Kiez, aus diesem Grund sind so gut wie alle zu Hause. Wir haben uns aus unserer Quarantäne gewagt, um für euch die Situation zu dokumentieren. Mit dabei ein Urgestein des Hamburger Kiez: Chris Laut, seines Zeichens Sänger und Bassist bei den Hamburger Rockern von OHRENFEINDT.
Hallo Chris, wir haben uns hier auf dem Kiez getroffen, um eine kleine Tour zu starten. Als alt eingesessener Kiezbewohner hast du sicher genug über die sündigste Meile der Stadt zu erzählen.
Die sicherlich am häufigsten gestellte Frage momentan dürfte wahrscheinlich die nach der derzeitigen Verfassung sein, also wie geht es dir?
Chris: Gesundheitlich ist alles Gott sei Dank paletti. Allerdings ist der Ausblick auf die Zukunft im Moment derbe unklar. Das beschäftigt mich schon. OHRENFEINDT ernährt eine Reihe von Leuten – und es sieht im Moment realistisch betrachtet nicht so aus, als würde der Livebetrieb zeitnah wieder losgehen. Wenn es dann so weit ist, werden wir alle uns auf den Füßen stehen, denn alle Bands werden versuchen, dann ihre Nachholtermine zu spielen. Ob die Menschen dann auch gleich wieder Bock haben, ob alle Clubs diese Zeit überstehen, weiß keiner. Ich hoffe, dass wir alle – Fans, Clubs, Techniker, PA-Verleiher, Bus-Verleiher, unser aller Familien – einigermaßen heil aus der Nummer rauskommen. Sowohl gesundheitlich als auch wirtschaftlich.
Wie ist dein Gefühl zur Zeit, wenn du dir den Kiez so anschaust?
Chris: Am Boden zerstört. Ich habe den Kiez noch nie an einem Wochenende um diese Uhrzeit menschenleer erlebt. Unfassbar. Was gerade in mir vorgeht, kann ich kaum in Worte fassen. Fast wie ein postapokalyptischer Film. Läden zu, keine Autos, kein Lärm, niemand unterwegs … echt heftig!
Hast du den Kiez schon mal so ruhig erlebt?
Chris: Noch nie! Nichtmal am Buß- und Bettag.
Welchen Ort magst du am liebsten auf dem Kiez?
Chris: Das hängt von meiner Stimmung ab. Der Kiez hat viele tolle Ecken, die kaum jemand kennt. Da gehe ich hin, wenn ich nicht unter Leuten sein mag. Sonst: der Hamburger Berg.
In welcher Bar, oder auch Club hast Du auf dieser sündigen Meile noch nicht gespielt?
Chris: Oh, eine Menge. Wir spielen maximal ein- bis zweimal im Jahr in Hamburg – seit vielen Jahren immer am 2. Weihnachtsstag im Gruenspan. Da der Kiez immer in Bewegung ist – ständig schließt ein Laden und ein anderer macht neu auf – gibts inzwischen viele Läden, in denen wir noch nicht gespielt haben.
Was war dein bisher schönstes Erlebnis auf der Reeperbahn?
Chris: Da war diese Sache mit diesen Mädels im Whirlpool, die … ach so, jugendfrei … Nee, im Ernst: da gibt es so viele tolle Erlebnisse, da müsste ich lange überlegen, wie ich die in eine Art Rangfolge bringe. Eigentlich ist der Kiez selbst das Erlebnis. Ich habe dem Kiez viel zu verdanken, viele schöne Gigs gesehen oder gespielt, interessante Menschen getroffen. Vielleicht ist das schönste Erlebnis einfach, dort leben zu können.
Was wünschst Du Dir für diesen Stadtteil nach dieser Krise?
Chris: Auf jeden Fall weniger Kioske und weniger Junggesellenabschiede. Die Kioske machen die Kneipenlandschaft kaputt und gefühlte 20 Junggesellenabschiede pro Tag mit den immer gleichen Ritualen können einem schon ganz schön auf den Sack gehen, wenn man hier lebt.
Wird die derzeitige Situation Einflüsse auf die neuen Songs von Ohrenfeindt haben?
Chris: In unseren Texten geht es meist um Dinge, die wir gerade erleben oder bei anderen mitbekommen. Dabei geht es aber oft um klassische Rock’n’Roll-Themen wie die Liebe, den Kiez, Fußball, Motorräder, Autos, den Rock’n’Roll an sich. Ob und wie ich diese spezielle Situation in Texte umforme, kann ich noch gar nicht sagen. Manchmal kommt die entscheidende
Idee auch erst Jahre später.
Arbeitest du gerade mit Keule und Andi an neuen Songs für Ohrenfeindt?
Chris: Irgendwie tun wir das immer, das ist ein fortlaufender Prozess. Wenn einer von uns eine Idee hat, nimmt er die auf und schickt sie an die anderen. Irgendwann werden Ideen entweder verworfen oder sie werden zu Songs. Klar gibt es zeitliche Schwerpunkte. Wenn eine Veröffentlichung ansteht, zum Beispiel. Dann fangen wir allerdings nicht erst im Studio an, Ideen zu sammeln und zu Songs zu entwickeln. Das passiert weit vorher.
Gibt es noch andere Projekte an denen du derzeit arbeitest?
Chris: Es gibt immer wieder mal Geschichten, an denen ich mich beteilige – als Coach, Händchenhalter, Rat und Ideengeber oder eben auch als Musiker. Ich bin neben OHRENFEINDT auch mit der HAMBURG BLUES BAND unterwegs. Mit Keule spiele ich zusammen in einem Akustik-Duo namens THE VERTICAL SLIDE ORCHESTRA (TVSO), ein reines Live-Projekt. Ab und zu helfe ich bei Cover-Bands aus und im Moment arbeite ich gerade mit ein paar Musikern aus Deutschland und den USA an einem Band-Projekt mit englischen Texten. Darüber möchte ich aber noch keine Einzelheiten raushauen, bevor wir wissen, wohin die Reise da geht. Außerdem werde ich manchmal von Unternehmen als Speaker gebucht.
Wie sähe unsere Welt im besten Fall nach dieser Pandemie aus?
Chris: Im Idealfall würden die Milliardäre schnallen, dass eine Welt, in der sich viel Reichtum bei wenigen Menschen konzentriert, eine schlechtere Welt ist als eine, in der man einen kleinen Teil dessen, was man eh niemals verbrauchen kann, in die “Gemeinschaftskasse” wirft. Und dass sie dabei immer noch sehr reich blieben.
Politiker, insbesondere Regierungen würden schnallen, dass die Umverteilung ausschließlich in die Taschen ihrer Gönner nicht unbegrenzt funktioniert.
In diesem Zusammenhang würden sie in einer idealen Welt die Privatisierung wichtiger öffentlicher Funktionen wie zum Beispiel des Gesundheitssektors zurückdrehen. Wie wir heute sehr deutlich sehen können: zu wenig Personal, das auch noch schlecht bezahlt und behandelt wird, zu wenig Betten oder eine kurzfristige Just-in-time-Vorratshaltung wichtiger Medikamente und Hilfsmittel führen dazu, dass ein klitzekleines Virus den Laden komplett zerstören kann. Das sollte uns
nicht nochmal passieren.
Vielleicht schnallen die maßgeblichen Leute auch, dass wir das jetzt aushalten müssen und nicht zu früh aus der Kontaktsperre rausgehen sollten, damit die Wirtschaft wieder läuft. “Sterben für die Wirtschaft” erscheint mir als nicht so tragfähiges Konzept.
Regierungen würden schnallen, dass eine absolute Machtkonzentration immer nur temporär funktioniert und irgendwann volle Granate nach hinten losgeht. Wenn man die Leute lang genug verarscht, bauen sie irgendwann Guillotinen. Oder sie wählen diese blaubraunen Verbalinkontinenzler, deren einziges Konzept das Dagegensein ist. Diese Leute haben
nichts Produktives auf der Pfanne. Die helfen niemandem außer sich selbst.
In diesem Zusammenhang würden die Medien schnallen, dass man nicht jedem Deppen mit einer ausreichend medienwirksamen Verschwörungstheorie oder anderen Scheißideen ein Forum bieten muss. Nein, die AfD muss nicht in jeder Talkshow ihren Quatsch verbreiten. Und nein, eine gewisse große deutsche Tageszeitung würde sicher auch eine Weile mit positiven Nachrichten
Geld verdienen können.
Unternehmen würden schnallen, dass sie ihre Mitarbeiter nicht grenzenlos auspressen können, denn die sind ja entweder direkt oder in einem wirtschaftlichen Kreislauf auch wieder Kunden.
Und schließlich: die Menschen würden sich generell viel mehr auf das Wesentliche besinnen und schnallen, dass Glück nicht allein vom Kontostand abhängt. Der nützt dir nix, wenn du allein (weil keiner zu dir darf) in einem unterfinanzierten Krankenhaus mit ausgepowerten Mitarbeitern verreckst, weil ein Arzt irgendwann auswählen muss, wer das Beatmungsgerät bekommt – und
du bist leider zu alt, zu krank oder kommst aus anderen Gründen nicht dafür in Frage. Ohne Gesundheit und Liebe ist Knete an sich nicht so richtig viel wert.
Zwei Stunden haben wir uns über den Kiez geschlichen, und uns immer wieder darüber unterhalten, wie unwirklich die Situation gerade ist. Dabei sind einige sehr schöne Bilder entstanden, die wir Euch hier an dieser Stelle nicht vorenthalten wollen. Kennt man St. Pauli, weiß man, das es so schnell nicht wieder dazu kommen wird, diesen Stadtteil in so einer ruhigen Situation zu erleben. Herzlichen Dank Chris Laut für deine Rede und Antwort.