Was wäre , wenn…? L’ÂME IMMORTELLE – “Ungelebte Leben” – live in Oberhausen

Was wäre, wenn… es in den 90ern ein Band-Projekt gegeben hätte, das vielen einen Einstieg in die Schwarze Szene ermöglicht hätte?
Was wäre, wenn… diese Band mit ihrem ungewöhnlichen Ansatz aus elektronischen Klängen und gefühlvollen Texten große, nationale Erfolge gefeiert hätte?
Was wäre, wenn… die Band das schier Unmögliche geschafft, und mit deutschen Texten auch international Aufsehen erregt hätte?
Was wäre, wenn… auch über 20 Jahre später noch erfolgreiche Alben und gut besuchte Headliner-Touren stattfinden würden?
Genau das ist L’ÂME IMMORTELLE, eine Band, die beim Tippen zwar ein paar Verrenkungen auf der Tastatur erfordert, die aber in ihrer Schaffenskraft ungebrochen ist, und in ihrem Hörerlebnis noch so frisch und bittersüß klingt, dass sie genau die richtigen Orte in der Seele erreicht.

Doch zunächst heißt es im Kulttempel Oberhausen: Workout mit Alex! ALPHA POINT, das Soloprojekt des Sängers Alex Rush aus Kiew eröffnet den Abend. Man hat in Deutschland nicht allzu oft die Gelegenheit, diesen außergewöhnlichen Act live zu sehen. Mit prominenter Verstärkung am Synthpult durch Vasi Vallis, leitet Alex den schwarzmagischen Abend im Tempel ein, und beginnt mit dem sich langsam aufbauenden, wabernden “Alive” vom 2012er-Album “High Like The Angels”. Thematisch passend auf der “Ungelebte Leben”-Tour geht es also zunächst einmal um das Gefühl des “am-Leben-Seins”. Oft ist es uns ja gar nicht richtig bewusst. ALPHA POINT zeichnet sich durch einen besonders vielschichtigen, dickwandigen Sound aus. Hier bekommt man keine minimalistische Gesangsbegleitung, sondern synthie-mäßig die volle Breitseite! Großartig. Dadurch kann man durch die verschiedenen Klangschichten streifen und immer wieder Neues entdecken – wie ein Tauchtrip in den Korallenriffen des Roten Meers. Wie ein Scanner fährt ALPHA POINTs Soundgewitter durch die Menge und findet zielsicher die paar Electro Maniacs, die direkt aufgeladen werden und zu tanzen beginnen. “Emptiness Within” schlägt ein wie eine Bombe, der Kracher in rasantem Tempo sorgt für die ersten Schweißtropfen. Ganz einfach ist das Publikum für den Support-Act indes nicht, die meisten sind doch etwas überfordert mit der geballten Power auf der Bühne und vor allem mit der gnadenlosen Electro-Ausrichtung. Natürlich sind die meisten für Melancholie und Herzschmerz hier und nicht für Tanzeskapaden. Alex, ganz der Profi, ließ sich nicht beeindrucken und tigerte auf der Bühne auf und ab, während er mit ganzem Körpereinsatz seine Lyrics schmetterte. Dem ELEGANT MACHINERY-Song “Shattered Grounds”, der im Original recht minimalistisch daherkommt, verhalf ALPHA POINT zu einem ganz neuen Level. Es blieb das einzige Cover im Set. Mit dem Ohrwurm “Call It Heaven” und dem Titelsong des Albums “High Like The Angels” beendeten Alex und Vasi ihr Set. Ich muss sagen, dass das eine sehr bereichernde Erfahrung war, wenn man wie ich, viel für synthetische Klänge übrig hat. Die intensive Performance des passionierten Sängers zusammen mit, dem wie beschrieben, sehr komplexen Sound unter der Regie von Vasi beeindruckten mich und machten aus mir einen ALPHA POINT-Fan. Hoffentlich bekommen wir bald noch mehr davon in Deutschland zu sehen!

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Fotos: Cynthia Theisinger

Der Staffelstab wurde nun an die Münsteraner Band BURN übergeben. Die Jungs sind auch schon etliche Jahre in der Szene unterwegs und haben es sich in ihrer Nische, dem gefühlvollen Pop-Rock gemütlich gemacht. Ich erinnerte mich noch daran, die Band 2016 als Support von ASP gesehen zu haben und damals eine Ansage zum Song “Fieber (Routine, Ordnung, Symmetrie)” nicht verstanden zu haben. Nun also, sieben Jahre später erfuhr ich endlich im Gespräch mit der Band, was dieser Song mit einer U-Bahn zu tun hat. Schön, wenn sich auch viele Jahre späte rnoch ein offener Kreis zu schließen vermag. BURN hatte zuvor einige Alben mit deutschsprachigen Texten herausgebracht, aber 2023 markierte einen Wendepunkt. Mit “Falling In Reverse” kam der erste Langspieler auf English heraus. Was geblieben ist, ist die dunkle Grundstimmung und die hohe, immer wieder charakteristisch kippende Stimme von Felix Friberg. Um die Neuerfindung von BURN gebührend zu feiern, bestand das Set auch nur aus englischsprachigen Stücken, beginnend mit “Anomaly” und “Locust”. Auch BURN muss man attestieren, dass sie über die Jahre gewachsen sind. Der Sound ist vielfältiger geworden, die Gefühlstiefe hat sogar noch zugenommen. Gleich der Opener traf ziemlich genau ins Herz und man merkte auch, dass diese Art Musik viele im Publikum ansprach. Mit “Why Don’t You Find Out For Yourself?” hatte es auch ein Song von “Black Magnolia” (2012) ins Set geschafft. Hier konnte im Refrain auch gleich kräftig vom Publikum mitgesungen werden, zumindest das “ooooh-oh-oooh” bekamen die meisten hin. Das eingängige “Dystopia” gönnte den Stimmen der Zuhörenden keine Pause, denn auch hier konnte man einfach nur mitsingen. Der dunkle Klang der Saitenfraktion, bestehend aus Stefan Timm und Markus Düring, sollte der einzige Gitarrengenuss an diesem Abend bleiben. Mit “Burn For You” und “Ghost” ging es zurück an den Anfang der Diskographie zum Debutalbum “The Truth”. Der Opener des Albums zog das Tempo deutlich an. Die meisten im Publikum schienen mit Gitarrenmusik generell kompatibler zu sein als mit Synthies, sodass jetzt auch mal mehr Leute überzeugt werden konnten, sich zu bewegen. BURN schafften es mit ihrem ganz besonderen Sound, eine Verbindung herzustellen und hinterließen auch mit dem Schlusspunkt, dem Titelsong “Falling In Reverse”, eine erneuerte Visitenkarte, ohne ihre Wurzeln zu verleugnen. Ein Balanceakt, der nicht jedem gelingt.

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Fotos: Cynthia Theisinger

Nun war es an der Zeit, den Geist aus der Flasche zu lassen. Wenn man über 20 Jahre im Geschäft ist, setzt bei manch einer Band langsam Trägheit ein. Vor allem, wenn man sich einen gewissen Bekanntheitsgrad erarbeitet hat, und auf etliche produzierte Hits zurückblicken kann. Hattet ihr bei älteren Bands auch schonmal das Gefühl, dass diese nur noch aus Gewohnheit auf die Bühne gehen und ihr “Pflichtprogramm” ohne Kür absolvieren, um sich danach wieder hinzulegen? Natürlich ist es auch ohnehin schon ein utopisches Unterfangen, sich heutzutage eine Band live anzuschauen, die man damals mit 15 entdeckt hat und zu hoffen, dass die Gefühle dabei noch die gleichen seien wie damals. Das liegt häufig noch nicht einmal an der Band. Nein, man selbst hat sich verändert und empfindet deshalb nicht mehr in gleicher Weise wie als Teenager. Trotzdem ist man dann enttäuscht. L’ÂME IMMORTELLE weisen keinerlei Verschleißspuren auf. Das dynamische Duo aus Thomas Rainer und Sonja Kraushofer gibt sich nicht damit zufrieden, ein aufgewärmtes Programm abzuspulen. Dieser Verrat an ihrer treuen Fanbase kommt für die Österreicher nicht in Frage! Verwirrt drehten sich manche ZuhörerInnen im Kreis, als Sonja den Opener “Was wäre wenn?” ansang, aber auf der Bühne nirgendwo zu entdecken ist. Die Grand Dame hat sich etwas einfallen lassen und begann das Konzert im Publikum stehend und singend. Dadurch wurde eine größere Intimität hergestellt, die Gedanken des Songs konnten den Weg zu den lauschenden Herzen noch leichter überbrücken. “Ungelebte Leben” bietet eine Menge Stoff zum Nachdenken. Jede Entscheidung, die wir treffen führt zu einer bestimmten Zukunft. Millionen anderer Zukünfte sterben aber zeitgleich, hingerichtet von unserem Entschluss. Wer hat sich nicht schon einmal die Frage gestellt: “Was wäre wenn… ich einen anderen Weg genommen hätte? Eine andere Abzweigung? Wenn ich einen Menschen nicht verlassen hätte? Wenn ich weggezogen wäre? L’ÂME IMMORTELLE geben diesen vielen ungelebten Leben jetzt eine musikalische Heimat und beleuchten diesen Denkprozess ausgehend vom Zeitpunkt des Todes in der Rückschau auf ihrem neuen Langspieler. Aber natürlich war in Oberhausen auch Zeit für die Perlen der Vergangenheit. Mit “Wie Tränen im Regen” erlebten wir eine schöne Zeitreise zurück in das Jahr 2012. Wie immer entfaltete sich die besondere Magie der “Momente” vor allem dank des Zusammenspiels der beiden Stimmen von Rainer und Kraushofer. Genau wie man Stahlerzeugnisse verschiedener Härtegrade und Eigenschaften zusammenschmiedet und miteinander kombiniert, um eine außergewöhnlich harte und schöne Damaszener-Klinge zu erhalten, entsteht der besondere Zauber von L’ÂME IMMORTELLE durch dieses Zusammenwirken der so gegensätzlichen Elemente. Ein Blick in die Gesichter des Publikums genügte, um eine Vielzahl von Emotionen auszumachen. Egal ob das 20 Jahre alte “Stumme Schreie” oder eins der Highlights von “Ungelebte Leben” in Form von “Push”: Die Zuhörenden bekamen genau das, was sie brauchten, eine emotionale Katharsis und das Herausschwemmen der seelischen Schlacke, die sich über lange Zeit angesammelt hatte. Ich frage mich, ab wann LAI-Konzerte endlich von der Krankenkasse finanziert werden. “In tiefem Fall” markierte damals das “Comeback” der Österreicher nach der Pandemie. Auch Songs aus diesem Album durften natürlich nicht fehlen und so liefen wir alle zusammen “Dem Abgrund entgegen”. Ein Höhepunkt des Sets war natürlich auch der Song, mit dem sozusagen alles angefangen hatte. “Life Will Never Be The Same Again” kickt heute noch genauso in die Magengrube wie damals. Ja, man hat sich verändert und ja, man hat ein ganz anderes Nerven- und Gefühlskostüm als damals. Aber manch einer der alten Songs knackt dich trotzdem noch mühelos wie eine Erdnuss. Ganz großes Kino! Das reguläre Set endete mit “Phönix” und auch mit dem hintergründigen “Widerhall”. Der Song baut langsam immer mehr Wucht auf und hier lohnt sich auch definitiv ein Blick in die verschlungenen Lyrics. Eben weil hier der Schwerpunkt liegt und auch wegen der Länge von mehr als fünf Minuten würde manch eine Band vielleicht entschieden haben, solch einen Song nicht live zu spielen. Aber nicht so L’ÂME IMMORTELLE, die sich in ihrer Kunst keine Grenzen diktieren lassen. Sie wissen, dass ihre Fans nicht die beklagenswert kurze Aufmerksamkeitsspanne der heutigen Generation haben, sondern nur allzu bereit sind, sich in solche komplexen Werke zu versenken. Natürlich hatte die Menge noch nicht genug, denn der ein oder andere Hit stand noch auf dem geistigen Einkaufzettel und ohne “ihren” Song wollten viele nicht ins Bett gehen.
Thomas und Sonja erhörten zum Glück das Flehen der Anwesenden und kamen noch einmal mit aller Wucht zurück, um die legendären Songs “5 Jahre” und “Es tut mir leid” zu intonieren. Nicht unerwähnt bleiben sollen auch die großartigen Live-Musiker Martin Gutmann (Keyboard, WHISPERS IN THE SHADOW) und Gerit Lamm (Schlagzeug, CATALYST CRIME), die die beiden Ausnahme-Stimmen liebevoll einrahmten wie eine Gold-Fassung den Edelstein eines Ringes. Doch apropos Fassung: Diese hätte das Publikum sicherlich verloren, wenn nicht noch eine zweite Zugabe gespielt worden wäre. Ein Song fehlte noch! Die Rede ist natürlich von “Bitterkeit”, dem Hit des Jahres 1998. “Überall ist Bitterkeit, Verzweiflung und der Tod. Blut und rotes Fleisch werden unser täglich Brot…”. Es gibt wohl kaum einen in der Schwarzen Szene, der diese Zeile nicht mitsingen kann. Sonja und Thomas zelebrierten diesen alten Song geradezu, am “Piano” sitzend und besonders Thomas gab emotional alles und spie die Botschaft geradezu in die Welt hinaus. Die Anwesenden vor der Bühne fieberten voll mit und betätigten sich als Background-Chor. So klang der Abend im gemütlichen Kulttempel in Einigkeit und Verbundenheit aus. Überall war Bitterkeit , damals… das hat sich heute aber natürlich nicht geändert, sondern eher im Gegenteil noch verstärkt.

Was wäre, wenn… ich dieses Konzert nicht besucht hätte? Wenn ich zuhause auf meinem Sofa geblieben wäre? Dann hätte ich ein eindrucksvolles Beispiel für eine “alte” Band mit ganz neuer Energie verpasst. Die sich nicht auf erreichten Lorbeeren ausruht, sondern sich immer noch viele Gedanken macht, wie sie ihre Fans erreichen kann. Die sich nicht auf den Nimbus der Legende von einst verlässt, sondern deren Messages aktueller denn je sind und die sich immer noch für uns in die Bresche wirft, um das auszusprechen, wofür wir oft keine Worte finden. Die unsterbliche Seele, die L’AME IMMORTELLE, nimmt uns immer noch mühelos in Besitz und baut Brücken zu unserer eigenen Seele auf, wirft ein fahles Geisterlicht in jene Winkel des Bewusstseins, die wir manchmal lieber im Dunkeln lassen würden, mit denen wir aber besser endlich in Zwiesprache treten sollten, um uns selbst ganz und gar zu verstehen und zu akzeptieren.

Was wäre, wenn… dieser Text jetzt zu Ende wäre und du deine Gedanken selbst weiterspinnen müsstest?

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Fotos: Cynthia Theisinger
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