M’era Luna 2023 – Sonntag

Auf dem M’era Luna verbringt man keine ganze Woche wie auf dem Wacken Open Air oder dem Summer Breeze. Die Momente sind daher umso kostbarer. Sie sind allzu schnell vorbei, wenn man nicht aufpasst und jeden Moment genießt. Die zwei Fixsterne im gotischen Kalenderjahr heißen Wave Gotik Treffen und M’era Luna, und genau wie Sterne leuchten sie am hellsten kurz vor dem Verblassen. Die Saison neigte sich dem Ende zu, auch wenn mit dem Stella Nomine und dem Nocturnal Culture Nights noch zwei kleinere Veranstaltungen den Staffelstab übernehmen würden.

Fotos: Rattchen

Früh vor Ort sein lohnte sich auch am letzten Tag, denn mit DRAGOL und BLITZ UNION standen vielversprechende Newcomer in den Startlöchern. Bei Ersteren geht es recht urwüchsig, wikingermäßig zu. Mit Trommeln und Cello sowie deutschsprachigen Texten wurde die Main Stage eröffnet. Gespielt wurden Lieder wie “Atme” , “Unser Land” und “Schrei dein Lied”. Letzteres hat die engagierte Truppe auch reichlich getan. Das Album “Rote Leinen” erschien letzte Woche.
BLITZ UNION aus Tschechien hatte ich bereits beim Gothic meets Klassik im letzten Jahr in Leipzig gesehen. Markenzeichen der jungen Band: Utensilien, die an Skimasken erinnern. Sie spielten Songs ihres aktuellen Albums “Absolution” und die neue Single “Freak Anthem”. Bei beiden Eröffnungsacts waren schon viele Zuschauende vor den Bühnen, an frühen Vögeln herrschte also kein Mangel.
Für die nachfolgenden Acts HELDMASCHINE und MANNTRA brauchte man auch schon gehörig Kraft. Friedliches Einschunkeln entfiel. René Anlauff und seine Mannen brachten die Main Stage zum Beben. Natürlich waren Hits wie “Luxus” und “Propaganda” dabei. Auch das Sportprogramm bei “Springt!” wurde natürlich gnadenlos absolviert, auf die frühe Uhrzeit wurde keine Rücksicht genommen. Wenn die Maschine einmal läuft, kann sie keiner mehr aufhalten! Die rohe NDH-Walze überrollte die M’era Luna-Gänger und wer danach noch nicht genug von derlei hatte konnte direkt bei MANNTRA weiter headbangen. Die Kroaten machten genau da weiter, wo DRAGOL aufgehört hatten, nämlich beim Folk-Rock. Durch die kroatische Sprache in den Texten bekommt das ganze aber noch etwas mehr Wucht. Auch hier herrschten optisch Felle und Kriegsbemalung vor und das kam bei der Gitarrenfraktion gut an. Nur zwei Tage vorher war die aktuelle Single “Starkind” erschienen, die dann auf dem Schlosshof-Festival und dem M’era Luna ihre Erstaufführungen feiern konnte.

Die Electro-Fraktion scharrte allerdings langsam etwas ungeduldig mit den Hufen, doch auch für sie hatte das M’era Luna natürlich gesorgt. EISFABRIK nahm die Main Stage in Beschlag und versuchte, etwas Abkühlung zu bringen. Es war trotz der ständigen Bewölkung noch immer recht warm auf dem Festivalgelände und dank Charly und Co. konnten wir uns zumindest kühle Gedanken machen. Auch der Yeti-Amateur kam wieder zum Einsatz und peitschte aus dem Graben heraus die Menge zu maximalem Support an.
Auch SHE HATES EMOTIONS schlug elektronische Töne an. Chris Pohl scheint einer der Künstler zu sein, deren Kreativität einen nie versiegenden Quell darstellt. Mit SHE HATES EMOTIONS, dem gemeinsamen Projekt mit Jan Teutloff von [X]-RX geht es ein klein wenig 80er-mäßig zu, was den Sound angeht. “Wir sind heute für euch SHE HATES EMOTIONS. Toll, euch so zahlreich hier sehen zu dürfen, dankeschön. Wir sind die Zebra-Boys, weil wir Zebrahemden anhaben. Wir spielen jetzt die erste Single, die in einer Zeit veröffentlicht wurde, als die Menschen sich für etwas ganz anderes interessiert haben, nämlich für Corona. Corona ist vorbei! Hier ist für euch “See The Light”, erklärte Chris kurz den Hintergrund der Anfangsphase der Band. Ich dachte kurz daran, was ich auch schon Vasi Vallis gesagt hatte, als er im Zebrahemd in Saschsen gespielt hatte: Dass das sehr mutig sei. Aber die “Löwin” von Berlin war ja letztendlich doch nur ein Wildschwein gewesen. Chris als Berliner und Jan “aus der Nähe von Berlin” wären noch etwas mehr gefährdet gewesen. “Er ist der Animateur!”, erklärte der Sänger weiter. “Macht einfach nach, was er macht”. Die Tradition, mit dem Keyboarder rumzualbern, wurde offenbar von BLUTENGEL übernommen. Der schmissige Retrosound von SHE HATES EMOTIONS (Wer ist “she” eigentlich?) mit der warmen Stimme von Chris Pohl ist jedenfalls durchaus hörenswert. Wer also in den Pausen zwischen BLUTENGEL-Auftritten sonst immer in sein zerschlissenes TERMINAL CHOICE-T-Shirt geweint hat, hat nun etwas, an dem er sich festhalten kann.

Fotos: Rattchen

Auf der Hauptbühne war derweil der Platz reichlich ausgenutzt worden. Ein mehrere Meter hohes Skelett, ein schwarzes, fledermausverziertes Pult, das konnte nur eins bedeuten: Hoher Besuch aus Norwegen! GOTHMINISTER hat sich in den letzten paar Jahren von einem Soloprojekt des Sängers Bjørn Brem zu einer vollwertigen Band entwickelt. Das letzte Mal, dass ich diese Band gesehen habe, “predigte” der Fronter noch relativ alleine von seinem Pult herunter, aber holy shit, jetzt ging es richtig rockig-metallig zur Sache. Und auch was die Special Effects anging, ließ GOTHMINISTER sich nicht lumpen. Funkenfontänen zum Start und reichlich Flammenwerfer rahmten die Show ein. Brem trug eine Krone aus Eisenspitzen und zwischendurch schob ein Mann in einem blutigen Laken eine Horrorpuppe auf einem Rollstuhl auf die Bühne. Sehr viel Show für eine Band nachmittags um 13 Uhr. “Thank you, M’era Luna, are you ready to rock?”, kam die inquisitorische Frage vom Pult herab. “This one is called “Demons”. Zwischendurch wurden auch noch grüne Feuerwerkskörper gezündet und die Menge ließ sich von dem Dark Rock und der Show ganz und gar einnehmen. “The Sun” (die hatte sich zwischenzeitlich wieder verzogen), “This Is Your Darkness” und “Liar” – es ging Schlag auf Schlag im norwegischen Horrorkabinett, bis zum Schluss auch noch ein ganz neuer Song namens “Thge Battle Of The Underworlds” uraufgeführt wurde. Und gebattlet wurde tatsächlich! Bjørn rückte einem Monster, das an Frankensteins selbiges aus ALICE COOPERs Show erinnerte mit einem CO2-Werfer zu Leibe. Eine großartige Show und auch musikalisch durchaus wertvoll, was die Norweger da geboten haben!

Fotos: Rattchen

Nun wurde es Zeit für das Mittagessen. Aber auch das wurde natürlich musikalisch begleitet. Auf der Hauptbühne gaben sich LETZTE INSTANZ die Ehre und auch mit vollem Mund kann man noch “Wir sind allein” oder “Flucht ins Glück” mitsummen.

Fotos: Rattchen

Auch sehr eingängig wurde die Club Stage von MELOTRON bespielt. Schon sage und schreibe 32 Jahre gibt es die Synth-Pop-Formation aus Mecklenburg-Vorpommern. Andy Krügers sanfte Stimme singt “Gib mir alles” noch immer so eindringlich wie vor 20 Jahren.

Fotos: Rattchen

Zu FROZEN PLASMA war ich glücklicherweise fertig mit der Nahrungsaufnahme und konnte mich nun ganz auf Vasi Vallis und Felix Marc klonzentrieren. Die Leuchtschuhe waren geladen, die Goldhemden bereits für die Autogrammstunde poliert – beste Voraussetzungen also für ein nachmittagliches Workout. Natürlich wollten wir die Hits “Murderous Trap”, “Tanz die Revolution” und “Warmongers” hören. Gespannt waren wir aber auch auf die neue Single “Let It Rain Love”.
“Habt ihr Bock auf ‘ne kleine Party? Dann lasst es raus!”, forderte Felix und erxerzierte die kathartische “Gefühls-Ma-Schi-Ne” mit uns durch. Mit “Foolish Dreams” wurde es dann kurz etwas besinnlicher, denn: “Wir können nicht nur für die Füße, sondern auch für’s Herz!”, wie der Service-Hinweis von der Bühne lautete. Danach kam der Moment der Live-Premiere: “Wir haben euch statt des hässlichen Wassers von oben ganz viel Liebe mitgebracht!”. Wer gegen Liebe allergisch war, konnte noch schnell den Platz verlassen, bzw. eigentlich nicht besonders schnell, denn es war dermaßen voll vor der Bühne, dass man höchstens ganz rechts außen noch durchkam. Dort gab es eine Rettungsgasse zu den Sanitäranlagen. Zu dem Song wurden rote Herzballons auf die Bühne gebracht und alsbald den Händen der Fans übergeben, sodass es wirklich den ganzen Song über “Liebe regnete”. Ein wundervoller Moment für ein wundervolles Musikstück, das seinen Platz in den Herzen der Fans selbstverständlich bereits gefunden hat. Mit “Warmongers” war das Set begonnen worden, die anderen beiden erwähnten Hits bildeten das Ende der Setlist. Oben der springende und fuchtelnde Felix sowie der in sich hineinlächelnde Vasi und unten die eskalative Menge, die tatsächlich der “Muderous Trap” entgangen war und dies mit einem wilden und energiegeladenen “Tanz der Revolution” feierte. FROZEN PLASMA sind einfach immer ein Garant für eine Party mit Herz. Danke für dieses Highlight!

Fotos: Rattchen

Währenddessen hatten wieder einmal verdienstvolle Finnen die Hauptbühne gekapert. Ich liebe finnische Soundchecks, hab ich das schon einmal erwähnt? “One , two, one, two” jaaah. Kennen wir! Aber “yksi kaksi” , yksi kaksi” ist viel toller. THE 69 EYES waren angetreten, die in Tränen aufgelösten LONDON AFTER MIDNIGHT-Fans doch noch zu versöhnen. Die Veteranen aus Helsinki wirken natürlich auch besser in völliger Dunkelheit, aber man nimmt, was man kriegt, schließlich sind sie nicht so oft bei uns zu sehen. Die unsterblichen Songs aus der über 30-jährigen Bandgeschichte kann jedenfalls fast jeder Goth mitsingen. Das gilt für “Brandon Lee”, “Never Say Die” und natürlich auch für “Lost Boys”. Die “Helksinki Vampires” erhöhten den Coolness-Faktor auf dem Gelände mal eben um mehrere 100%. Auf der Club Stage war nach dem Ausklingen des ELVIS PRESELY-Outros der Finnen jedenfalls schon alles für das nächste Highlight aufgebaut worden.

Fotos: Rattchen

Erinnert sich noch jemand an die große Enttäuschung von 2017? ASHBURY HEIGHTS sollte auch damals schon ein seltenes Vergnügen werden und ich hatte mich wirklich lange auf meinen ersten Live-Auftritt der Schweden gefreut. Im damaligen Hangar bzw. im “Wellblechbunker” wurde der Sound dann dermaßen verzerrt und zerschreddert, dass ich sogar Mühe hatte, die Songs zu erkennen und tief enttäuscht floh. Diese Wunde war all die Jahre nie richtig geschlossen worden, auch wenn ich die Band bei anderen Gelegenheiten in ungetrübter Form hatte erleben dürfen. Aber mit dem M’era Luna hatten wir noch eine Rechnung offen. Nun also open air auf der Club Stage. Die Frau am Mikro ist mittlerweile eine andere. Thea F. Thime hatte das Projekt im Guten verlassen und Gründungsmitglied Yasmine Uhlin war wieder zurückgekehrt. Diese kam dann auch in einem äußerst fabulösen Outfit auf die Bühne, dessen sexy Ausrichtung einen interessanten Kontrast zu Anders Hagström im weißen Anzug mit Hut darstellte. Der Gitarrist Johan Andersson kam in unauffälligem Schwarz daher, begeisterte aber durch eine enorme Spielfreude und Hingabe sowohl beim Keyboard- als auch beim Gitarrenspiel. Die Band begann ihren Auftritt etwas früher, da schon bei den verschiedenen Soundchecks viel mit dem Publikum interagiert worden war und die Ansage deshalb lautete: “We won’t go off stage because you know we’ll show up anyway. It’s “adult hide and seek”. Also ging man gleich zum Song “Waste Of Love” über. “Are you warmed up yet? You’re fucking beautiful, M’era Luna!”, freute sich Yasmine über die zahlreichen Anwesenden und belohnte uns mit dem bekannten Song “Smaller”. Mit “Spiders” ging es dann auch etliche Jahre zurück, der zeitlose Song wird aber immer noch in zahlreichen Clubs gespielt. Die Live-Version war allerdings recht ungewöhnlich und wich stark von der Club-Version ab. Es wurde geradezu rockig, was natürlich vor allem an Anderssons exzessivem Gitarrenspiel lag. Ungewöhnlich, aber gut. Für sperrige Song- und Albentitel ist ASHBURY HEIGHTS durchaus bekannt, der Song “If You’re Shooting With The Left It Means The Right Side Is Working” setzt dem ganzen allerdings die Krone auf. Der etwas ruhigere Song diente als Atempause vor dem großen Finale mit dem recht aktuellen Song “Wild Eyes” (im Orginal mit MADIL HARRIS zusammen), dem All-time-Favourite vieler Fans “Phantasmagoria” und dem Mitmach-Song “Anti Ordinary”, der noch lange im Kopf blieb. Das war absolut großartig, ASHBURY HEIGHTS! Und der Sound war auch tadellos, die Scharte von 2017 gilt damit offiziell als ausgewetzt!

Fotos: Rattchen

In der Menge vor der Club Stage hatte ich einen Besucher mit einem M’era Luna-Shirt von 2004 entdeckt und mit Interesse das damalige Line up studiert. Ganz abgesehen davon, dass der damalige Grafik-Designer für die gewählte Schnörkel-Schrift Folter verdient gehabt hätte, war es interessant, heutige Szenegrößen wie ROTERSAND, SALTATIO MORTIS, EPICA und WELLE:ERDBALL in den untersten Reihen der Bands zu sehen. Headliner war aber damals wie heute WITHIN TEMPTATION. Doch noch über den Niederländern prangte ein Name, eingerahmt von Totenköpfen: WOLFSHEIM. Die Formation war zum Zeitpunkt, wo das T-Shirt gedruckt worden war schon über den Zenit hinaus. Ein Jahr später sollten Peter Heppner und Markus Reinhardt sich im Streit trennen. Ersterer machte aber damals als Solokünstler weiter und als solcher stand er nun auch auf dem M’era Luna auf der Bühne. Zeit für große Gefühle in Hildesheim! Natürlich wurde “Once In A Lifetime” performt und für “Was bleibt” kam JOACHIM WITT zu Heppner auf die Bühne um sich für dessen Gastauftritt am Vortag bei “Die Flut” zu bedanken. Mit “Kein Zurück” wurde es am Ende dann nochmal nostalgisch und man sah so manche Träne im Publikum glitzern.

Fotos: Rattchen

Ganz anders ging es nebenan bei AGONOIZE zu. 2019 hatte es bereits eine gefeierte Show von Chris L. und Co. auf dem M’era Luna gegeben, nun gab es das Comeback. Die Menge gierte geradezu nach kompromisslosem Electro und natürlich nach Blut. Das wurde etwas weniger üppig “gespendet” als erwartbar gewesen wäre, aber natürlich kamen die ersten Reihen trotzdem voll auf ihre Kosten. Egal ob bei “Blutgruppe Jesus (-)”, “Koprolalie” oder beim großen Finalsong “Bis das Blut gefriert”: AGONOIZE ist wieder da und hat es immer noch fuckin’ drauf! Man weiß erst, was man vermisst hat, wenn man es so unvermittelt wieder zurückerhält und so ging es uns vor der Club Stage. Brutal, ehrlich und blutgetränkt, so mögen wir unseren Aggrotech! Ein krasser Kontrast zum gefühlvollen Heppner, aber hey, man sollte das ganze Emotionsspektrum anerkennen, das uns Menschen zur Verfügung steht. Auch outfittechnisch wurde einiges geboten. Chris mit Engelsflügeln und Dornenkrone ist schon ein besonderer Anblick und auch seine Band hat absolut gerockt bzw. electro’t! AGONOIZE geben den dunklen Trieben in uns ein Ventil und das ist heutzutage notwendiger denn je! Chris, wir sind sehr froh, dass du wieder bei uns bist!

Fotos: Cynthia Theisinger

Hatten gestern noch IN EXTREMO uns die tägliche Injektion Mittelalterrock verpasst, so war es nun an SUBWAY TO SALLY das zu tun. Während andere Formationen diesen Alters etwas zu schwächeln beginnen, präsentieren die Brandenburger sich stärker als jemals zuvor. Die Verpflichtung von Ally Storch als Violinistin nach dem Weggang von Frau Schmitt war eine exzellente Wahl gewesen, Eric Fish bewies wieder einmal seinen ausgesprochen guten Riecher für Talent. Das Set begann mit Feuer und mit “Was ihr wollt” vom aktuellen Album “Himmelfahrt”. Auch wenn die Band sich eigentlich nicht rar macht, was Auftritte angeht, so hatte ich die neuen Songs noch gar nicht live gehört, seit das Album im März erschienen war. Der zweite Song “Leinen los” gehörte auch in diese Platte, danach war es aber bereits Zeit für den Über-Hit “Eisblumen”. Diese blühten wunderschön auf, natürlich tatkräftig unterstützt von tausenden Stimmen im Publikum. Danach gab es eine kleine Überraschung für mich. Wer auf der Tour im April gewesen war, war vorbereitet, aber ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt das Lied “Böses Erwachen” live gehört hatte, über 20 Jahre ist das Stück schon alt. Die “Henkersbraut” war da schon deutlich geläufiger. Nach “Ihr kriegt uns nie” hatte Ally Gelegenheit für ein ausgiebiges Geigensolo, was natürlich frenetisch gefeiert wurde. “Jetzt wird es etwas leichtfüßiger!”, warnte Eric noch vor “Sieben” und “Tanz auf dem Vulkan”. Danach brachte er zum Ausdruck, wie schön er es empfände, dass ein Lied, dass er geschrieben hat mittlerweile Nachtclubs seinen Namen gibt. Die Rede war vom bekannten “Veitstanz”. “Wollen wir zusammen einen würdigen Abschluss kreieren? Ihr singt den Refrain!”, leitete der Fronter “Kleid aus Rosen” ein. Die Band hatte vor dem Konzert bereits ein kurzes Bad in der Menge genommen und einfach so nach Manier der Spielleute mitten im Gedränge eine Akustikversion dieses Liedes gespielt. Nun, mit der Wucht des Stroms im Rücken entstand das Rosenkleid prächtig und rot vor dem geistigen Auge. Songs wie dieser werden wohl auf ewig als immaterielles Kulturgut in das kollektive Gedächtnis der Szene eingebrannt bleiben. Und auch mit einer anderen Tradition wurde nicht gebrochen: Bodenski stimmte “Julia und die Räuber” an und die Menge sang es noch lange weiter.

Fotos: Rattchen

Ausruhen war aber noch keineswegs angesagt! Ab jetzt trennte sich die Menge in die Gitarrenfetischisten, die weiter die Main Stage belagerten und die Electro-Anhänger, die die Club Stage zu ihrer Heimstatt erklärten. DE/VISION lieferte sich ein Soundduell mit MONO INC. und WITHIN TEMPTATION musste gegen HOCICO antreten. DE/VISION haben zwar seit 2018 nichts mehr veröffentlicht, sind aber trotzdem aus der Szene nicht wegzudenken. Nach 35 Jahren darf man auch mal etwas kürzer treten und natürlich gibt es reichlich Material, was auch heute noch Aktualität besitzt. “Try To Forget”, “Rage” oder “Flavour Of The Week” bringen auch heute noch eine ganze Menge zum Tanzen und nach dem letztgenannten schlossen sich Steffen und Co. dem “adult hide and seek” an, das ASHBURY HEIGHTS gestartet hatten, blieben auf der Bühne und spielten die Zugaben direkt. Ich wäre nicht böse drum, wenn sich das etablieren könnte.

Fotos: Rattchen

MONO INC. haben mit dem aktuellen Album “Ravenblack” souverän Platz 1 der Charts erobert, aber das war sogar auch mit dem Vorgänger “Book Of Fire” bereits gelungen. Aus diesem Album stammte der Eröffnungssong “Louder Than Hell”. Diese drei Wörter sind unter anderem auch eines der Mottos des Wacken Open Airs, von dem ich gerade gekommen war. Meiner Meinung nach erfüllen MONO INC. die Voraussetzungen dafür noch nicht ganz, aber man konnte sie immerhin auch auf dem Vorplatz bei dem arabischen Food Truck noch hören. Passenderweise war “Arabia” auch gleich der nächste Song. Katha Mias durchdringender Backgroundgesang lockte mich dichter vor die Bühne. Dann gab es den “Ravenblack”-Doppelpack aus “Princess Of The Night” und “Lieb Mich” zu hören. MONO INC. ist in den letzten Jahren rasant gewachsen und hat sich eine riesige Fanbase erarbeitet, die natürlich auch zahlreich vor der Bühne versammelt war. Merchtechnisch hatte man schon den ganzen Tag zahlreiche “Raben” über den Platz huschen sehen, nun hatten sie ihr Stelldichein an der Futterkrippe und fraßen Martin Engler und Co. aus der Hand. Der guten alten Tradition folgend, wurde natürlich auch wieder das Cover “The Passenger” zusammen zelebriert, gefolgt von einem der beliebten Drumsolos der Rabengöttin hinter den Drums. Und da MONO INC. uns unbedingt mit einem Ohrwurm entlassen wollten, hatten sie sich “Children Of The Dark” bis zum Schluss aufgehoben.

Fotos: Rattchen

Wem das alles dann doch noch nicht brachial genug war, konnte guten Gewissens die Rabenvoliere verlassen und sich von unseren Lieblings-Mexikanern das Licht auspusten lassen. Nein, ich meine nicht den entsprechenden Drink, sondern natürlich die Bande vom wahnsinnigen Erk Aicrag. Den Mann sollte man eigentlich verklagen, weil er der Aftershowparty mindestens 20% Besucher klauen dürfte, die dank seiner Musik sämtliche Kraft aus den Füßen abgegeben hatten. Ich glaube, wer in Mexiko lethargisch und antriebslos zum Arzt geht, bekommt dort ein HOCICO-Konzert verschrieben! “Flesh To Lacerate”, “Untold Blasphemies” – mehr brauchte es eigentlich nicht, damit unerfahrene Konzertgänger erkannten: “No One Gets Out Alive”! Wenn HOCICO ruft bzw. brüllt, gibst du gefälligst alles oder nichts. Es gibt kein Versuchen! Dein Körper schaltet auf Autopilot und du springst wie ein Irrer durch die Gegend, brüllst irgendwas und bewegst dich dermaßen kraftvoll und rhythmisch, dass deine Freundin dich wütend fragst, warum du diese Skills nicht auch im Bett benutzt. Sorry, sweetheart, dafür müssen wir HOCICO anmachen. “Bite Me” passte thematisch da ganz gut. Eine Schwachstelle hat der Sex-Plan natürlich: Die ganzen Spinnenzeichen sorgen bei Frauen nicht gerade für Entspannung und wenn sie dein Bandlogo-Tattoo entdeckt, ist sie auch schon wieder mit einem Sprung im Treppenhaus. Whatever, die “Instincts Of Perversion” müssen sich dann ein neues Gegenstück suchen. Das M’era Luna war jedenfalls ganz in der Hand von Erk und Racso. “Vorüber, ach vorüber, geh wilder Knochenmann. Ich bin noch jung, geh lieber und rühre mich nicht an!” heißt es in dem bekannten Gedicht “Der Tod und das Mädchen” von Matthias Claudius. Ob Claudis HOCICO kannte? Genausowenig wie das Mädchen sich dem sie holenden Tod entziehen konnte, hatte die brodelnde Menge vor der Club Stage die geringste Chance, Erks Sound-Feuerwerk zu entkommen. Da half nur eins: Bis zum Ende durchspielen! Dem Endboss die Stirn bieten. Sich dem “Poltergeist” stellen, dann “Forgotten Tears” vergießen udn schließlich mit letzter Kraft die “Zeiten der Wut” durchstehen. HOCICO löschte uns aus wie eine brennende Kerze und die heruntergetropften Wachspfützen, die wir danach waren, konnte entweder das Müllteam auffegen oder man ließ sich von unversehrten MONO INC.-Anhängern vor die Hauptbühne tragen.

Fotos: Mirco Wenzel
Fotos: Rattchen

 

Denn dort warteten noch die grandiosen WITHIN TEMPTATION auf all diejenigen, die ihre Kräfte den Tag über gut eingeteilt hatten und nun noch Lust auf einen symphonischen Abschluss hatten. Mit bislang neun M’era Luna-Auftritten teilt sich die Symphonic Metal-Band mit IN EXTREMO, SUBWAY TO SALLY und THE 69 EYES zusammen den zweiten Platz, nur BLUTENGEL und ASP können mit zehn Auftritten einen mehr vorweisen. Man könnte also von einem Treffen der “Neuner” sprechen, da sie alle in diesem Jahr nach Hildesheim gekommen waren. Nach dem schon seit einiger Zeit traditionellen Eröffnungssong “Our Solemn Hour” versuchte sich Sharon den Adel an Deutsch und sagte: “Es ist super, jetzt wieder hier zu sein!” Dann wurden “The Reckoning”, “Faster” und “Paradise (What About Us?)” in einem durchgepusht, TARJA wurde über die Bildschirme eingeblendet. Die Krone aus Eisenspitzen, die Sharon zu ihrem wundervollen Goldplättchenoberteil zu tragen pflegt, hindert aufgrund ihrer fragilen Struktur natürlich am ordentlichen Abgehen, weshalb sie schon nach kurzer Zeit abgelegt wurde. Auch der sympathischen Sängerin war die lange M’era Luna-Geschichte ihrer Band natürlich präsent: “I just realized how far and how long we are coming to to your Hildesheim-Festival”, sinnierte sie. “First time was 2006…”. Dass sie sich da verschätzt hatte, wusste ich ja schon aufgrund des alten Shirts, aber tatsächlich war WITHIN TEMPTATION schon 2002 das erste Mal auf dem M’era Luna zu Gast, damals allerdings noch relativ klein im dritten Bandblock. Headliner damals waren THE SISTERS OF MERCY, HIM und SOFT CELL gewesen. Das war natürlich noch vor dem weltweiten Erfolg des Albums “The Silent Force” (2004). Doch für die Hits dieses Albums war die Zeit noch nicht gekommen. Zunächst galt es, neues Material live zu erproben und zwar in Gestalt vom relativ neuen Song “Wireless” sowie der brandneuen Single “Bleed Out”. Das gleichnamige Album wird bald erscheinen und man kann sagen, dass die sehr modernen, kraftvollen Songs gut ankommen, für die WITHIN TEMPTATION mittlerweile steht. Symphonic Metal wurde von den NiederländerInnen gekonnt in die jetzige Zeit weiterentwickelt und zwar ohne die alteingesessene Fanbase völlig zu verprellen. Welche Band schafft das schon? Für “Raise Your Banner” machte Sharon ihre übliche Ansage, indem sie die Anwesenden fragten, was diese tun würden, wenn ihr Land angegriffen werden würde. “Would you fight for your family and the ones you love?” stellte sie alle vor eine schwierige Entscheidung. Sie stelle klar, dass sie absolut gegen Krieg sei, dass die Ukraine aber zur Zeit keine andere Wahl habe, als sich zu verteidigen. In der ersten Hälfte des Songs schwang Sharon dann eine sehr große ukrainische Flagge. Große Feuerfontänen leiteten dann den Song “In The Middle Of The Night” ein und dann kamen sie: Die nostalgischen “The Silent Force”-Momente. Wie gesagt hat WITHIN TEMPTATION eine ziemliche Veränderung durchgemacht und präsentiert heutzutage neue, poppige Songs mit Synthies und Themen wie KI, Digitalisierung und post-apokalyptische Welten. Man kennt den Reflex vieler Bands, sich nach einem solchen Wandel gewollt oder ungewollt vom Frühwerk zu distanzieren und nur noch die neuen Songs zu spielen. Ich hatte im Wacken-Artikel angemerkt, dass SALTATIO MORTIS 2011 und 2023 auf dem Wacken Open Air gespielt hatten und nur ein einziger Song in beiden Setlists enthalten war. Wenn wir schauen, welche Songs WITHIN TEMPTATION 2011 auf dem M’era Luna gespielt hat und das mit dem heutigen Auftritt vergleichen finden wir SECHS gleiche Songs, also circa die Hälfte der Setlist! Man macht heute völlig andere Musik als noch vor 12 Jahren und ist sich trotzdem treu geblieben. Ein absolutes Kunststück! “Stand My Ground” (der erste WT-Song, den ich überhaupt in meinem Leben hörte, im Alter von 11 Jahren) und “Angels” sind Zeitzeugen aus der Zeit, als “The Silent Force” einschlug wie eine Bombe. Auch heute noch singt Sharon die Songs mit der gleichen, überwältigenden Stimme und reißt uns wie damals unaufhaltsam mit. Für das emotionale Stück “Supernova” kehrten wir noch einmal kurz in die Gegenwart zurück. Das Lied, dass Sharon nach dem Tod ihres Vaters geschrieben hatte, als sie sich fragte, wie es ihm im Jenseits wohl gehe und als sie erst mit diesem Verlust abschließen wollte, wenn der Kosmos ihr ein Zeichen gegeben hat. Sie forderte die Menge dazu auf, an ihre Liebsten zu denken, die mittlerweile ihren Weg zu den Sternen angetreten hatten und wenn dieser tolle, powerfulle Song gespielt wird, ist das mit diesem Background jedes Mal eine Gänsehautgarantie. Sharon warf einen sehnsüchtigen, langen Blick in den dunklen Nachthimmel und sang dann aus vollstem Herzen. Das Finale gehörte dann natürlich dem großen Manifest für Mutter Erde. “She rules! Until the end of time she gives and she takes. She rules. Until the end of time she goes her own way!” . Mit allen M’era Luna-Gängern zusammen sang ich laut die alten Worte und schloss gedanklich mit diesem wundervollen Festival ab.

Fotos: Rattchen

Seit 12 Jahren komme ich nun hierher, aber 2023 war einfach besonders schön und sticht heraus. Danke an FKP Scorpio und die ganze M’era Luna-Crew für’s Organisieren dieses Horts voller Erinnerungen. Wir waren vor dem Festival aufgefordert worden, niederzuschreiben, was das M’era Luna für uns bedeutet. Mein Beitrag lautet:

M’era Luna ist für mich ein Schmuckkästchen, das ich einmal im Jahr voller Vorfreude öffne. Ich finde darin viele schöne Erinnerungen an tolle Konzerte, rauschende Partys und interessante Begegnungen aus den Vorjahren und lege jedes Mal auch ein paar neue, schwarze Perlen dazu!

In diesem Sinne: Bis nächstes Jahr, Freunde!

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