M’era Luna 2023 – Freitag & Samstag
Nachdem man die Schlammapokalypse von Wacken überlebt hat, direkt weiter auf das nächste Festival? Aber sicher! Es hat keiner behauptet, dass das Leben als Hybrider mit 50% Gothic- und 50% Metal-Anteil einfach sei. “Immer wenn Wacken absäuft, verbrennt das M’era!” bekam ich als Bauernweisheit einige Male nutzlosen Rat. Nach dem ganzen Regen in Norddeutschland war die Aussicht auf Sonne gar nicht so schlecht. Für mich war das Besondere, dass ich mich zum ersten Mal seit vielen Jahren gegen das Camping vor Ort entschieden hatte. Abgesehen von 2012, als ich mit einer ewig nörgelnden Partnerin in einem Hotel in Laatzen festsaß und 30% meiner geplanten Bands verpasst habe, weil Madame morgens nicht aus dem Bett kam, habe ich bislang immer gezeltet. Diesmal schlief ich aber in Hannover bei guten Freunden, musste also jeweils abends das Gelände verlassen.
Für mich gehörte der Freitag trotz mangelndem Musikprogramm schon immer fest zum M’era Luna dazu. Die Schwarze Szene ist äußerst vielfältig und so gibt es natürlich jenseits der musikalischen Unterhaltung noch zahlreiche weitere Aktivitäten. Der Freitag stand traditionell immer im Zeichen des Buches. Als großer Fan von Markus Heitz und Christian von Aster, die scheinbar einen Lesevertrag auf Lebenszeit mit dem Festival abgeschlossen haben, kam ich auch immer voll auf meine Kosten. Doch zunächst wurden gute Freunde in ihrem Camp besucht. Im Vergleich zu anderen Festivals verfügt der M’era Luna-Campingplatz über eine sehr übersichtliche Aufteilung mittels Buchstaben und Zahlen, man findet sich also stets in Minuten. Im Camp meiner Freunde angekommen fand ich Herzlichkeit, sehr bequeme Liege-Campingstühle und Alkohol vor. Eine angenehme, aber fatale Mischung. Ich sah vor meinem geistigen Auge quasi schon Markus Heitz und Christian von Aster mit verschränkten Armen und kritischem, bohrenden Blick vor mir, die mich ermahnten, meine Programmziele nicht zwischen Flauschigkeit und Berauschtheit aus den Augen zu verlieren. Ich konterte in dem geistigen Zwiegespräch und sagte: Meine Herren, ich bin ein kultivierter Gothic, der schon immer gepredigt hat, dass man ein Festival programmtechnisch voll ausschöpfen sollte. Man ist schließlich nicht zum Saufen hier, sondern auf der Suche nach Futter für die geschundene Seele!. Zufrieden proklamierte ich den Sieg “Mind over matter” und lehnte mich zurück. Doch dann kam die… “Bowle”!
Jaja, eine klassische Fruchtbowle besteht aus Sekt oder Wein und ein paar Dosenkirschen, völlig ungefährlich, ich weiß. Was der Camp-Bürgermeister da allerdings in einem umfunktionierten Waffelsandwich-Eimer anschleppte, hatte mit der Fruchtbowle soviel zu tun wie HOCICO mit Balladen. Die Rezeptur ist in Teilen geheim, aber ich sage nur so viel: Den Brasilianern sollte verboten werden, schlimme Dinge mit wehrlosem Zuckerrohr anzustellen! Ich konnte trotz des Bowlen-Konsums einen Kumpanen überzeugen, sich den aktuellen Meister der Fantasy im Hangar anzuhören. Markus Heitz stellte sein neues Buch “Die schwarze Königin” vor und ich konnte es wie geplant schon zwei Wochen vor dem Erscheinungsdatum erwerben. Doch als wir nach der ersten Lesung die schwüle Halle verließen und noch ein Getränk zu uns nahmen, entfaltete die brasilianische Bowling-Kugel langsam Wirkung in mir und stieß einige wichtige Pins in meiner Erinnerungsstruktur um, weshalb mir die weiteren Ereignisse weitgehend entglitten. Das ging zu Lasten der zwei weiteren Lesewilligen Liza Grimm (unbekannterweise) und dem großartigen Christian von Aster, den ich sonst eifrig zu hofieren beliebe. Allein, ich konnte meine in chaotischem Aufruhr befindliche Physis nicht zu einer Rückkehr in die kulturschwangere Halle bewegen und versäumte so das weitere Programm. Dafür traf ich zwei gute Freundinnen und konnte mit ihnen am späten Abend noch eine Taverne aufsuchen. Neue Stiefel wurden bewundert und alte Geschichten aufgewärmt, ggf. einige neue geschrieben. Der Abend war trotz des gesunkenen Kulturanteils famos und es gelang mir, den letzten Shuttlebus zum Hbf und den Zug nach Hannover zu erwischen.
IMPRESSIONEN
Fotos: Rattchen
Am nächsten Morgen wachte ich glücklicherweise fast gänzlich ohne zugelaufenen Stubentiger wieder auf und schaffte es sogar, verhältnismäßig früh aufzustehen. Ich hatte meinen Frevel am liebevoll gestrickten M’era Luna-Programm wieder gutzumachen und wollte daher bereits die frühen Acts anschauen. Außerdem gab es in meinem Freundeskreis zwei M’era-Debuttanten (bzw. eine Debuttante und einen Debutonkel), die ortsfremd wie sie waren, meiner sanften Führung bedurften. Als ich im Hildesheimer Stadtzentrum noch schnell Kopfschmerztabletten erwarb (nicht aus akutem Bedarf, mehr als vorausschauende Maßnahme), sah ich mich von einer ältlichen Apothekerin bemuttert. “Sie gehen auf dieses Festival. Sie sind dehydriert und Ihnen fehlen wichtige Elektrolyte, junger Mann!”. Meine Dementi, dass für ausreichend Electro auf den Bühnen gesorgt sei, ignorierte die verhutzelte Heilerin und drückte mir Magnesium in die Hand. “Nehmen Sie das vor ihren Exzessen und Sie bekommen keine Kopfschmerzen!”. Ich widersprach der Dealerin nicht mehr, sondern bedankte mich artig. Die Fahrt zum Flugplatz mit dem Shuttlebus verlief flott und wir waren rechtzeitig auf dem Gelände, um ANTIAGE zu sehen. Der Opener kann mit gutem Gewissen als “exzentrisch” bezeichnet werden oder eben auch als “künstlerisch wertvoll”. Neben Tänzer(-innen?) in hautengen schwarzen Ganzkörperanzügen und mit weißen Hasenmasken fiel auch Sänger Kaa mit einem schwarz-weißen Kunstpelzmantel auf, den er aufgrund der subtropischen Temperaturen aber schnell ablegte. Auch Keyboarder Veto zog wegen seines flexibel auf einer Stahlfeder montierten Instruments diverse Blicke auf sich. Die Musik kam sehr synthig-avantgardistisch daher und erinnerte mich an ähnliche aus dem Rahmen fallende Bands wie JE T’AIME. Auf jeden Fall ein kurioser Act und man versteht gut, wieso ANTIAGE den Nachwuchswettbewerb “Battle of the Bands” des Sonic Seducers gewonnen haben. Das aktuelle Album heißt “Aphrodisiac Odyssey”. Beim letzten Song sank Kaa wie erschossen zu Boden und erhob sich erst nachdem die Musik verklungen war. Dramatisches und sehr unterhaltsames “Musik-Theater”! War nicht auch Christian von Aster schon in bulesquem Ambiente aufgetreten? War nicht meine Kultur-Lücke vom Vortag jetzt durch ANTIAGE weitgehend gefüllt, die Wunde in meinem literarischen Herzen verbunden worden? Ja, wenn ich mir das nur energisch genug einredete, so würde Herr von Aster und ich selbst mir sicherlich verzeihen!
VERSUS GOLIATH schlugen in eine gänzlich andere Kerbe. Da der Rap-Anteil hier relativ hoch ist und ich ein wenig allergisch bin, hörte ich mir die Münchner nur vom Pressezelt aus an. Man kann aber schon konstatieren, dass es dem M’era Luna gut zu Gesicht steht, auch solche experimentellen Acts bzw. Bands außerhalb des Spektrums der Gothic-Szene zu buchen. Es wird immer wieder mangelnde Abwechslung im Billing beklagt und solche Bookings sind das beste Gegenmittel. Auch in der Headliner-Riege ließ man ja seitens FKP Scorpio immer wieder Abweichungen zu. Wir erinnern uns an gefeierte Auftritte von KORN und THE PRODIGY. Für meinen Geschmack gab es aber auf der Hauptbühne bald wieder Nachschub in Form von RAVE THE REQVIEM. Ich frage mich manchmal, wo Bands, die man nicht kannte und die plötzlich überall auftauchen, eigentlich hergekommen sind und warum man sie davor nicht wahrgenommen hat. Wie auch immer, JETZT sind RAVE THE REQVIEM in aller Munde. Ihre sehr eingängige Verknüpfung von Metal mit Synthie-Klängen kennt man von ihren Landsleuten AMARANTHE und von BEAST IN BLACK. Es ist ein Rezept, was eine Art modernen Metal erschafft, der durch die Electro-Klänge besonders mitreißend ist. Das Set begann direkt mit neuem Material von der aktuellen EP “Doombreaker”, gefolgt von “Crack The Sky” vom 2018er-Album “FVNERAL [sic!]”. Bei der Band werden “u”s grundsätzlich als “v” geschrieben wie es auch bei den Römern üblich war. “Thank you very much for being here, M’era Luna. It’s a pleasure”, bedankte sich die Band. “Wow, the sun is out. This warms our swedish hearts”. Mit ihrem größten Hit (bis jetzt) “Holy Homicide” endete die Power-Show aus Skandinavien. Die Nachfrage nach solcher Crossover-Musik ist wie gesagt groß, wir werden sicherlich noch einiges von RAVE THE REQVIEM hören.
Fotos: Rattchen
Auch der nachfolgende Act auf der Club Stage ist gerade im Aufschwung. WISBORG füllt für uns die Lücke, die irgendwo zwischen HIM und LACRIMAS PROFUNDERE klafft mit nachdenklichem, melancholischem Rock, düster aber auch etwas verspielt. Konstantin, Luc und Nikolas haben wohl etwas im Keller mit schwarzer Magie experimentiert und aus der Dämonenwelt einen neuen Gitarristen beschworen. Anders ist kaum zu erklären, wie der neue Saiten-Satan Peter bei seinem ersten Festivalauftritt überhaupt schon dermaßen souverän vom Leder ziehen konnte. Nach “Becoming Caligari” machte Konstantin erst eienmal Bestandsaufnahme: “Schöne Gesicher in der Menge, bekannte Gesichter. Es ist wundervoll, hier zu sein. Wer kennt uns schon? Und wer dachte: Jow, läuft grad, nehm ich einfach mal mit?”. Mit dieser Ehrlichkeit hatte er die Lacher auf seiner Seite. Aber direkt wurden beide Seiten der harsch gespaltenen Menge wieder vereint und mit der Quest versehen, auf der nächsten WISBORG-Tour mit dabei zu sein. “Seit wir Teenager waren gehen wir auf dieses Festival und standen vor der Bühne”, erzählte der Sänger weiter. “Wir haben uns gesagt: Eines Tages stehen wir hier AUF der Bühne. Ich sehe Fans der 1. Stunde in der ersten Reihe. Wir bedanken uns bei Chris Harms, der uns auf Tour mitgeschleppt hat und bei Bruno Kramm, der unsere Alben rausbringt”. Mit seinen sympathischen Ansagen flogen dem charismatischen Fronter die Herzen zu, aber natürlich setzte die Band auch musikalisch ein fettes Ausrufezeichen. Mit “L’Amour Fait Mal” wurde eine erotische Hymne vom aktuellen Album “Into The Void” gespielt. Vor dem Auftritt stellte ich mir durchaus die Frage, ob die Musik von WISBORG auch im Sonnenschein und open air funktionieren würde. Bisher hatte ich die Band nur in kleinen, vernebelten Clubs gesehen. Aber man muss sagen: Diese Truppe passt sich nicht an verschiedene Bühnengrößen oder Location-Gegebenheiten an. Stattdessen wisborgisiert sie einfach in kürzester Zeit die Bedingungen vor Ort und macht sich jeden Auftrittsort zu eigen. Konstantins Weigerung, regelmäßig zu atmen, führt außerdem zu vielen langgezogenen Tönen, die mit klagendem Klang die Seele in Schwingung versetzen. Sein Stimmvolumen füllt mühelos auch weitläufigere Räume aus.
Fotos: Rattchen
Währenddessen war die Hauptbühne von der verdienstvollen Mittelalter-Formation TANZWUT gekapert worden. Der Teufel und seine Schergen gaben alles, um dem Versprechen “Ihr wolltet Spaß, den sollt ihr haben” gerecht zu werden und gemeinsam mit den Zuhörenden das “Meer” entstehen zu lassen.
Fotos: Rattchen
Direkt danach erhöhte MEGAHERZ die Schlagzahl nicht nur mittels Baseballschläger. Auch musikalisch legte die NDH-Formation noch eine Schüppe drauf. Die “Jagdzeit” war angebrochen auf dem M’era Luna-Festival und das war nicht zu überhören. Und auch das “Miststück” hatte offenbar Hochkonjunktur im vergangenen Jahr gehabt, denn etlichen BesucherInnen war es ein offenkundiges Anliegen, ihre Wut über solche Menschen hinauszuschreien.
Fotos: Rattchen
Aber auch auf der Club Stage (wieso heißt sie eigentlich so, schließlich ist sie genauso im Freien gelagert wie die Main Stage) war es Zeit für etwas mehr Aggression. Erk Aicrag steht natürlich musikalisch für die gnadenlose Abrissbirne HOCICO, aber auch seine Zweitformation RABIA SORDA geht nicht zimperlich zu Werke. Aber hier kommen noch der Sound von Gitarre und Schlagzeug hinzu, weshalb RABIA SORDA eine leichte Punktrockattitüde an den Tag legt (sie wissen trotz Sprachbarriere genau, was “Attitüde” heißt!). “Out Of Control” ist hier Programm und die Krone des “King Of The Wasteland” macht Erk wohl niemand streitig. Unterstützt wurde das Trio noch von Giulia, der Freundin des Drummers als Tänzerin.
Fotos: Mirco Wenzel & Rattchen
DIARY OF DREAMS ist auch so ein Fall von “funktioniert am besten im Dunkeln und in Innenräumen”. Aber nur weil der unpraktische Glutball gerade am Himmel zu gleißen beliebt, lässt sich der geneigte Gothic ja noch lange nicht von seiner auf Verfall und Siechtum ausgerichteten, bröckelnden Seele ablenken. Adrian Hates’ Stimme trifft so oder so bis ins Mark und man kann zu “Endless Nights” und “Undividable” zur Not auch schweißüberströmt zwischen unverschämt bunten Sommer-Goths tanzen. “M’era Luna, das sieht gut aus. Danke, dass wir wieder da sein dürfen!”, bedankte der Fronter sich bei der versammelten Selbsthilfegruppe in den passiv-aggressiven “Menschfeind”-Shirts. “Epicon” schüttelte auch im Sonnenschein den ganzen Körper durch und auch die neuerdings übliche auf die pianobegleitete Version reduzierte Version von “Traumtänzer” verfehlte ihr Ziel nicht. Augen glitzerten reichlich. Wenn’s brennt war’s halt Schweiß.
Fotos: Rattchen
L’ÂME IMMORTELLE (mittlerweile weiß ich, mit wie vielen und mit welchen Accents man es schreibt, ich muss es gar nicht mehr nachschlagen. Preiset mich!) sind zur Zeit äußerst aktiv und auf fast allen namhaften Festivals zu finden. Thomas Rainer und Sonja Kraushofers Musik passt aber auch wunderbar in diese Zeit der Hoffnungslosigkeit hinein. Die Botschafter der Bitterkeit entfalteten auch hier auf dem M’era Luna wieder die Wucht der Tragik und zelebrierten ihre größten Hits (“5 Jahre”) genauso wie neueres Material aus “Im tiefen Fall”.
Fotos: Mirco Wenzel & Rattchen
Einer musste pro M’era Luna-Tag auch die Fahne des gepflegten Club-Electros hochhalten. Am Samstag war das natürlich NEUROTICFISH. Dass aufgrund des starken Windes tatsächlich die “Fahne”, nämlich das rechte Bühnen-Sidedrop-Banner zu wehen begann und fast davongeflogen wäre, war sicherlich nicht geplant. Die Stagehands waren aber nicht aus der Ruhe zu bringen und brachten die Allzweckwaffe schlechthin: Kabelbinder. Währenddessen ließ sich auch das Duo auf der Bühne nicht stören. “Wir sind Neuroticfish und haben das gute Wetter mitgebracht”, verkündete Sascha ironisch. Auch wenn sein Mikro zwischendurch der Meinung war, Pausen einlegen zu müssen, wurden Hits wie “Colourblind” und “Silence” souverän abgefeiert. Nach “Civilized” musste kurz die Stimme restauriert werden. “Nach dem Song ist meine Stimme immer im Arsch”, erklärte der Fronter. Für “Is It Dead?”, “Fluchtreflex” und natürlich das beliebte “Velocity” reichte es dann aber doch noch. Es wurde ausgiebig getanzt und die Stimmung in der Menge würde ich als gemütlich-euphorisch klassifizieren. Future Pop darf man heutzutage natürlich nicht mehr als “Weiber-Electro” bezeichnen, aber vielleicht als Pantoffel-Eskalationsmöglichkeit. Man hat Spaß, aber es bleibt kuschelig und kein Extremsport (zu HOCICO kommen wir noch). NEUROTICFISH entließ uns mit dem Versprechen auf ein neues Album im Dezember.
Fotos: Rattchen
PROJECT PITCHFORK bleiben das Allround-Werkzeug, um die heterogene Szene zu knacken. Der General-Schlüssel (präsentiert daaas Gewehr!), der die vielen individuellen Geschmäcker aufschließt, aus der die kunterschwarze Szene zusammengesetzt ist. Peter Spilles schien an diesem Samstag etwas heiser zu sein (ja noch mehr als sonst!), aber die Songs zündeten trotzdem, angefangen bei den 1992er Werken “Souls” und “Conjure”. “Zeigt eure Arme”, rief Spilles, aber dabei blieb es natürlich nicht. Bei “Beholder” musste selbstverständlich gesprungen werden, zu Atem kommen durfte man erst wieder beim ruhigeren “Acid Ocean”. “Time is the keeper of the track, nothing ever will come back…”. Nachdenkliche Zeilen und ja, für sowas ist auch Platz im Electro-Genre. Aber eins kommt ganz bestimmt immer wieder zurück: PROJECT PITCHFORK zum M’era Luna. Dieser festen Verbindung kann die Zeit nichts anhaben. Sicherheitshalber wurde sie aber dann auch noch amtlich getötet, natürlich mit dem Tinten… äh “Timekiller”. “Wir können uns im Herbst sehen!”, verabschiedete Spilles die Menge. “Dann mit einer neuen Scheibe im Gepäck. Bis dahin… Wir lieben euch”. Dem ist nichts hinzuzufügen!
Fotos: Rattchen
Kein Gothic-Festival ohne den großartigen Sven Friedrich! Durften wir auf dem Amphi noch seiner Rockformation ZERAPHINE lauschen, so war er hier mit Langzeitpartner in Crime André Feller und SOLAR FAKE am Start. Die Club Stage ist fast zu klein für den Schönen und das Biest. Während André sich wieder kräftig an Synthie und Keys austobte, schwebte Svens gefühlvolle Stimme über den Platz und zog das Publikum in seinen Bann. “This Pretty Life”, “Under Control” und “Not What I Wanted”, die Hitdichte war dem größten Gothic-Festival Deutschlands absolut angemessen und mit “Ghosts Again” wurde auch ein Cover des aktuellen DEPECHE MODE-Songs in die Setlist eingeflochten.
Fotos: Cynthia Theisinger & Rattchen
Für die Electro-Fraktion war an diesem Samstag also reichlich gesorgt worden! Die Cybergoth hatten sich sattgefressen, aber nun schlug die Stunde der Mittelalterszene. Mit IN EXTREMO und SUBWAY TO SALLY hatte das M’era Luna natürlich nur das Beste vom Besten auf dem Markt eingekauft. Nun wurde der erste Tausendsassa auf die Nostalgiker losgelassen. Durch Feuer und Rauch sprang die Institution IN EXTREMO auf die Main Stage und feuerte zuerst “Troja” und dann bereits “Vollmond” auf die entzückte Menge ab. “Habt ihr Spaß?”, stellte Micha Rhein die unnötigste aller Fragen. “Wir auch! Ab dafür!”. Als nächstes wurde ein Song “für die Damen” angekündigt, aber die Männer dürften ebenfalls mitsingen. Natürlich war die Rede von “Küss mich”. Es ist schon erstaunlich, wie Leute, die gerade noch zu PROJECT PITCHFORK getanzt haben sich blitzschnell auf völlig andere Musik einstellen und das Tanzbein auf völlig andere Weise schwingen können. Die Szene ist eben vielseitig und die wenigsten hängen nur einer bestimmten Musikrichtung an. Für ein Festival braucht es meiner Meinung nach viele verschiedene Komponenten. Man will natürlich emotionale Momente erleben wie mit DIARY OF DREAMS, man will coolen Seelen-Groove wie mit WISBORG erleben und es braucht ebenfalls gepflegten Mittelalterrock. Zusammen wird ein Schuh draus, bzw. ein Stiefel. Vielleicht sogar zwei, wenn man Glück hat, denn auf einem Bein kann man nicht stehen. Apropos: “Sternhagelvoll” ist ein Ohrwurm sondergleichen. “Auf Schaukelschuhen durch’s Leben…”, ein tolles Bild. Der “Kompass zur Sonne”-Kreis, den IN EXTREMO mit “Troja anfangs eröffnet hatten, schloss sich mit dem schwungvollen “Pikse Palve” als Schlussakkord.
Fotos: Rattchen
Bis zur vor dem Festival war noch nicht klar gewesen, dass LONDON AFTER MIDNIGHT nicht kommen würden. Die Absage sorgte für viel Traurigkeit unter den BesucherInnen, die den kultigen Dark Rock-Act sichtlich vermissten. So eine Situation ist immer schwierig zu lösen, wenn man Festivalveranstalter ist. Man muss oft in kürzester Zeit einen Ersatzact finden, der halbwegs ins Line-up passt und ähnlich groß ist, um den Slot passend zu übernehmen. Auf eine ähnliche Genre-Zugehörigkeit kann da oft nicht geachtet werden. Als der Ersatz-Act MESH bekanntgegeben wurde, stellte das die Dark Rock-Fans selbstverständlich wenig zufrieden, dafür jubilierte aber die Electro-Fraktion. Mir persönlich war LONDON AFTER MIDNIGHT zu wenig schwungvoll, ich freute mich daher sehr auf MESH.
Berufsmützenträger Mark Hockings verzauberte die Club Stage schon nach kurzer Zeit und machte da weiter, wo Sascha Klein und Sven Friedrich wenige Stunden zuvor aufgehört hatten. Es ging mit “I Fall Over” und “My Protector” gemächlich los, jeder konnte sich auf die Atmosphäre einstellen. Bei “Just Leave Us Alone” war natürlich Mitsingen gefragt. Zwischendurch wurde ich von einem geschätzt 1.55 m kleinen Mädchen gefragt “was wir da eigentlich sehen” würden. Ich antwortete lakonisch: “Du? Gar nichts. Ich hingegen sehe MESH!”. Sie ließ sich von dem für sie unbekannten Act jedenfalls trotzdem mitreißen, die Briten hatten sie direkt in ihren Bann gezogen. Bei “It Scares Me” sollte kräftig mit den Armen gewedelt werden, was auch gut klappte, schließlich war mittlerweile jeder auf Betriebstemperatur. Wegen der Überschneidung mit der Main Stage teilte ich den geschätzten Kollegen mit, dass ich zu VILLA VALO wechseln würde, sobald meine drei Songwünsche von MESH gespielt sein würden. Darauf musste ich relativ lange warten, bis sie gegen Ende des Sets alle drei nacheinander kamen: Den Anfang machte “Born To Lie”, dann kam “Last One Standing” und “Kill Your Darlings”. Danach war ich glücklich und konnte schauen, was VV auf der Main so fabrizierte.
Fotos: Rattchen
Die Dunkelheit tat dem romantischen Rock des Altstars sichtlich gut, das blinkende Heartagram auf dem digitalen Backdrop schnitt funkelnde Bahnen in die Nacht und die HIM-Fans schmolzen reihenweise vor der Bühne dahin. Ville Valo ist zurück aus der Versenkung und ich muss zugeben, dass der Auftritt dynamischer war, als ich erwartet hatte. Da war durchaus Wumms dahinter, was die Gitarren anging. Die Setlist war ein Potpourri aus alten HIM-Hits und den Songs, die VV als Solokünstler veröffentlicht hatte (2020 kam die EP Gothica Fennica Vol. 1, die vorherige Einzelveröffentlichungen zusammenfasste und nach einigen weiteren Singles schließlich das Album “Neon Noir” im aktuellen Jahr 2023). Es wurde viel darüber geredet, dass der Finne ausgezehrt wirkt und das ist auch nicht zu übersehen. Die langen Haare sind ab, aber der Lack? Er hat offenbar immer noch Lust, aufzutreten. Die meisten waren trotzdem wegen seiner Frühwerke hier und warteten sehnsüchtig auf die ikonische Hymne “Join Me In Death”, die schließlich im letzten Drittel des Sets auch gespielt wurde. Wir wünschen Ville Valo weiterhin Kraft und Inspiration, neue musikalische Akzente zu setzen und sich ggf. von der HIM-Zeit zu emanzipieren, auch wenn das als Songwriter natürlich genauso sein Werk war. Die druckvolle Rockmusik mit Herz bildete jedenfalls einen würdigen Abschluss für den M’Era Luna-Samstag.