Review: DELAIN – Dark Waters

Es ist eine Zeit der Reinkarnationen im Symphonic Metal-Bereich! Erst kürzlich feierten wir das neue Album der Kollegen von XANDRIA, nun legen auch DELAIN nach und veröffentlichen die erste Full Length-Scheibe in der neuen Besetzung. Dunkle Gewässer meiden wir normalerweise, denn wer weiß schon, was auf dem Grund der undurchdringlichen Schwaden lauert? Der Mensch setzt sich nicht gerne der Ungewissheit und ihren Gefahren und Unwägbarkeiten aus. Für heute müssen wir aber bitte eine Ausnahme machen. Wir werfen uns mutig in “Dark Waters”, das neue DELAIN-Album.

Die Landung ist nicht allzu hart, denn der erste Track “Hideaway Paradise” umfängt uns gleich mit wohliger Wärme. Sanftes, hallendes Pianospiel und Dianas verträumte Stimme empfangen uns, bis die Gitarren einsetzen. Es wird sofort klar, worum es sich hier handelt: Eine Hymne an die innerwärtige Welt! Wir erinnern uns an ASPs “Jeder trägt ein Biotop mit sich herum, ein kleines, unberührtes Stückchen Regenwald”. Dieses Paradies im Herzen ist es, das auch DELAIN hier besingen. Einen Rückzugsort gegen die Stürme und sich auftürmende Wogen der Welt da draußen. Wieviel wichtiger ist dieser Ort in uns noch geworden, seit die Digitalisierung und Verdammung zu ständiger Erreichbarkeit unsere äußere Hülle beständig ankratzt? DELAIN singen ein kraftvolles Plädoyer dafür, sich seine Seele zu bewahren und den inneren “Regenwald” zu pflegen, damit wir jederzeit in uns selbst Urlaub machen können. Ein recht nachdenkliches, emotional berührendes Stück für den Start. Ich hoffe, ihr konntet gut durchatmen, denn Track 2 wird anders! “The Quest And The Curse” wurde vorab als Single ausgekoppelt und ich kann ihn durch unzähliges Hören bereits auswendig. Ein großartiger Track. Seine Veröffentlichung war für die Fanbase damals sehr wichtig, denn hier wurde unweigerlich der Beweis erbracht, dass DELAIN noch am Leben sind! Wie fast immer in der Symphonic Metal-Szene stellt eine Neubesetzung einen gefährlichen Punkt dar. Auch bei DELAIN kochten die Emotionen hoch, die Fanbase spaltete sich, und es gab Heulen und Zähneklappern. Meine Meinung zu Besetzungswechseln ist hinreichend bekannt: Solange das Herz einer Band schlägt, und damit bezeichne ich denjenigen, der die Songs schreibt und die Musik maßgeblich komponiert, gibt es keinen Grund für das anmaßende Urteil: “Das ist nicht mehr Band XY”. Und dennoch… wenn sich die Wogen geglättet haben, sich der Wind gelegt hat und dann die erste Single in neuer Besetzung erscheint, kommt trotzdem der Moment der Wahrheit. “The Quest And The Curse” trug überdeutlich die Handschrift von DELAIN, und reihte sich nahtlos in die großartigen Werke der Vergangenheit ein, die so vielen Fans so unendlich viel bedeuten. Der wunderbar schleifenhafte Refrain mit abwechslungsreichen Passagen von Diana ergänzt sich gut mit den Growls. Auch der Text gibt einiges her. Deimos und Phobos treten auf, die mythologischen Söhne des Ares, die für Schrecken und Furcht stehen, und in der Bridge bekommen wir den ersten Choral des Albums, direkt gefolgt von wundervoll hohem, textlosem Gesang von Diana. Ein Highlight des frischen Albums, eine erste kräftige Strömung in den “Dark Waters”!

Auch Track 3 ist kein Unbekannter mehr. “Beneath” wurde ebenfalls vorab ausgekoppelt. Der Song beginnt mit leisem Wellenrauschen und Keyboard. Der eingängige Refrain wird mit männlicher Unterstützung durch Paolo Ribaldini gesungen. Die Strophen sind recht simpel und bestehen nur aus drei Zeilen, werden aber eindringlich gesungen. Inhaltlich geht es um ein Gefühl, in “waves of madness” zu ertrinken und um die Mühe, den Kopf über Wasser zu halten. Allerdings beginnt der Song mit den Zeilen “I have returned from down under” (Schön, dass es dir in Australien gefallen hat, Diana) und “I’ve learned to breathe beneath the waters, I’ve returned to the light” – der Song könnte also eine Rückblende darstellen, wie schwer es vorher war, aber man hat diese wilde See überwunden oder besser gesagt: Unterwunden. Die Botschaft könnte sein: Lerne unter Wasser zu atmen (ergo herausfordernde Situationen zu meistern) und verwandle deine Limitierung so in eine Stärke.
“Mirror Of Night” beginnt mit einem schönen Synthie-Effekt, doch dann hat man die ersten Headbang-Ambitionen, als die volle Instrumentierung einsetzt. Die Strophen folgen einem schönen Auf und Ab mit großem Stimmumfang, werden aber trotzdem minimalistisch hingetupft. Die auf- und ab kippende, leicht klagende Stimme mit kaum merklichem Hall-Effekt schaffen eine “Geister-Assoziation”. Der textlose “Ooh”-Gesang in der Bridge verursacht Gänsehaut und der Kontrast zwischen dem ohne Instrumentenbegleitung angesungenen Beginn des letzten Refrains und dem Übergang in einen vollen Rundumschlag einen Halbton höher ist perfekt gelungen. Spätestens da gibt es kein Halten mehr und die Haare kreisen. Der Refrain besitzt auch beträchtliches Ohrwurmpotenzial. Daher sage ich voraus, dass “Mirror Of Time” einen festen Platz in der Live-Setlist bekommen wird.
“Tainted…” nein, nicht Love. Diesmal nicht. Es sind die Herzen, die hier korrumpiert werden. Hier gibt es gitarrentechnisch direkt eins auf die Zwölf, bevor Diana die Aufmerksamkeit an sich reißt. Der Song ist eine Herausforderung, ein Racheschwur, ein trotziges Den-Kopf-Heben, ein Demonstrieren der eigenen Stärke und Entschlossenheit und so klingt er auch.

“The Cold” beginnt fulminant mit Bläsern und Chor. Wow! Der Song ist komplett durchorchestriert und schafft eine solch vollkommene Symbiose aus klassischen und Rock-Instrumenten, das man damit spätestens jetzt den Symphonic Metal erfunden hätte. “The Cold” ist ein Mahlstrom im dunklen Ozean, der einfach alles mit sich reißt und man löst sich einfach komplett auf zwischen dem Stakkato-Stampf des akzentuierten Chors, dem ikonischen Refrain und den ganzen symphonischen Schnörkeln. Das wird live vollkommen eskalieren, wenn dieses Juwel gespielt wird. Eigentlich braucht man nach diesem Brett erstmal eine Erholung, aber nichts da! Der Kopf singt direkt “You’re the cure for this lonely heart, lying underneath you keep on hiding…”, ganz automatisch wird umgeschaltet zu “Moth To A Flame”, längst vorab veröffentlicht und schon längst unrettbar in den Geist eingebrannt. Ich muss zugeben, dass ich nicht von Anfang an begeistert war. Man wehrt sich als Metal-Fan gerne mal gegen zu viel Eingängigkeit, das ist eine Art automatischer Immun-Reaktion des Metal-Körpers, die normalerweise dazu dient, eingedrungene Pop-Song-Fetzen unschädlich zu machen. Aber man begreift schnell: Hier ist ordentlich Metal drin! “Let this be the end of my cries”. Schon nach kurzer Zeit, brüllt man diesen Song geradezu mit – ja, auch im Bus! Hatte “Moth To A Flame” praktisch kaum Orchester-Elemente, kommen diese nun machtvoll mit “Queen Of Shadow” zurück. Ein toller, unterschwelliger Klimper-Effekt des Keyboards lässt einen hier die ganze Zeit mit dem Kopf nicken und im Refrain bekommen wir etwas, das schon immer zur DNA von DELAIN gehört hat: Gastsänger! In diesem Fall handelt es sich erneut um Paolo Ribaldini. DELAIN veröffentlichten last minute dazu auch ein Video. Inhaltlich erklärte die Band, dass der Song von einem Charakter aus Leigh Bardugos “Crooked Kingdom” inspiriert ist. Der Protagonist steht für alle Personen, die irgendwie in der Vergangenheit gefangen scheinen und sich dadurch selbst die Zukunft verbauen. Diese “Shadows” können einen einsperren. Aber es gibt Hoffnung! In dem Song erscheint eine zweite Person (sie tritt im Refrain auf) und versucht die erste Person aus diesen Fesseln zu befreien. Erinnerungen können etwas sehr Schönes sein, aber einen wie gesagt auch einengen und einem das Leben vergällen. Das ist die Botschaft dieses Liedes: Sich nicht davon einsperren und am Leben hindern zu lassen.

“Invictus” – “Unbesiegt” – so lautet der Titel von Track Nr. 9. Ob man den Text nun auf den aktuellen Krieg zwischen der Ukraine und Russland beziehen will, auf alle Kriege oder das Ganze schlicht als Metapher auf zwischenmenschliche Kämpfe beziehen will – einerlei! Soundtechnisch gibt es eine ordentliche Schüppe Epik drauf und die Lyrics und der Klang muten irgendwie endzeitstimmig an. Das Highlight in der Mitte des Songs ist natürlich die Stimme von Marko Hietala. Kein Gastsänger ist so sehr mit der Geschichte von DELAIN verbunden wie er. Schon auf dem Debutalbum “Lucidity” trug er einen unverwechselbaren Baustein zum Signature-Klang von DELAIN bei und auch später tauchte er auf einigen Alben auf. Es ist großartig, dass diese Tradition beibehalten wurde. Wir wissen alle, dass Marko NIGHTWISH verlassen hatte und seine Posts zur damaligen Zeit klangen sehr beunruhigend. Man hatte den Eindruck, dass der “alte Krieger” müde geworden war und am Abgrund stand – umstürmt von den Wirren der Welt. ER selbst hatte auf DELAINs “April Rain” gesungen: “You can’t control the storm”. Ich für meinen Teil war sehr glücklich, als er im letzten Jahr wieder Lebenszeichen von sich gab, an Raskasta Joulua teilnahm und sich allgemein widerhergestellt zeigte. Nun hören wir ihn bei “Invictus” und das schlägt einfach eine wunderbare Brücke zurück zur bisherigen Diskographie. Das ist DELAIN, Freunde! Unbezwungen und stark wie eh und je. Niemand kann es mehr leugnen! Der düstere Text des Songs und die apokalyptische Grundstimmung lassen nachempfinden, wie es ist, zu kämpfen, dem Ende nahezusein und am Ende doch zu triumphieren. Der Song schlägt durchgehend ein hohes Tempo an und erst am Ende haucht Diana mit den Streichern und dem Piano die Nummer sanft aus.
“Underland” – der erste Gedanke geht gleich zu Lewis Carroll und das täuscht auch nicht. Cooler Track – mystisch, uneindeutig wie das Wunderland. Das Kaninchen ist hier allerdings schwarz, nicht weiß und es wird davor gewarnt, ihm zu folgen. Außerdem ist der Refrain eine Warnung, sich nicht von seinen negativen Gefühlen verzehren zu lassen, weil sich das unweigerlich wie eine Auto-Immunreaktion gegen einen selbst wenden wird. Etwas unerwartet trifft einen die harte Bridge wie ein Kanonenschlag und lässt einen direkt headbangen. Der Chor klingt großartig, wie Peitschenschläge prasseln die kassandraischen Ratschläge des Textes, und dann klingt der Song leiserwerdend aus. Als Letztes bekommen wir noch ein besonderes Schmankerl, nämlich eine zauberhafte Piano-und Orchesterversion von “The Quest And The Curse”. Aber nicht nur instrumental, durchaus mit Gesang von Diana Leah, die hier dem an sich recht harten Song noch einmal eine ganz andere Note verleihen kann. Wunderschön! Die gegrowlten Passagen fehlen in dieser Version, es hätte auch schlicht nicht gepasst. Daher ist diese Version auch anderthalb Minuten kürzer, aber nicht weniger großartig.

Fazit
Wow! Einfach wow! DELAIN haben geliefert und sich eindrucksvoll aus den Tiefen von Moria zurückgemeldet! Sie waren beinahe in den Schatten gestürzt, wir Narren waren geflohen, aber nun kehren sie zurück zu uns, am Wendepunkt der Gezeiten, und das ist einfach nur wundervoll. Das Album bietet sehr viele Facetten und man kann nur konstatieren, dass Martijn, Diana, Ludovico und die beiden zurückgekehrten früheren Mitglieder Ronald und Sander hier ein großartiges Werk geschaffen haben, das die Fanbase verzaubern wird. Auf “Dark Waters” fügen sich harter Metal, symphonische Orchestrierung, Choräle und dezente Synthies zu einem stimmigen Ganzen zusammen, das man direkt mehrmals anhören muss. Die bereits vorab ausgekoppelten drei bzw. vier Singles sind nicht wie ein Trailer, der bereits alle guten Szenen enthält, sondern das Album enthält noch weitere Höhepunkte wie z.B. “The Cold” und “Underland”. So geht Symphonic Metal. Danke für diese Rückkehr, DELAIN. Wir werden auf der Frühjahrstour euren Meilenstein mit euch feiern.
Dark Waters are released – now we… start swimming!

Bewertung: 10/10

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