Review: AVANTASIA – “A Paranormal Evening With The Moonflower Society”

“Es gab schonmal griffigere Album-Namen” , könnte einem bei der neuen Platte von AVANTASIA durch den Kopf schießen. Aber mal ehrlich: Wer griffiges, glattgebügeltes Standard-Material will, ist bei dieser Band ohnehin falsch. Wenn ein Tobias Sammet in seinem neuen Homestudio mit viel Zeit und Ruhe während der Pandemie einen neuen Langspieler erschafft, dann kann das Ergebnis nur eins sein: Fulminant, virtuos und wegweisend. Das Mastermind Sammet tritt mit diesem Album in seine eigenen, großen Fußstapfen. Der Vorgänger “Moonglow” hatte Platz 1 der deutschen Charts erreicht. Im Grunde besteht kein Zweifel daran, dass auch der “Paranormal Evening” das schaffen wird. Handwerklich und vom emotionalen Gerüst her hätte das neue Album das auf jeden Fall verdient.
AVANTASIA stand schon immer für wohldosierten Pathos und große Gefühle. Der Bombast des Projektes löst im geneigten Zuhörerohr Staunen aus. Jedes Album ist wie ein aufregender Freizeitpark für die Seele und man kann sich oft gar nicht satthören an all den verschiedenen Stimmen und Soundelementen, die die durchchoreographierten Songs von Tobias Sammet säumen. Wieviel geistige Zuckerwatte hat er diesmal für uns erschaffen?

Der Einstieg ist zunächst sanft und entfaltet sich pianös in Form des Songs “Welcome To The Shadows”. Man weiß also von vorneherein, wo die Reise hingeht und als ob man es nicht schon anhand des Namens geahnt hätte, gedeiht die Moonflower Society nicht am sonnigen Südhang, sondern bleibt in den Schatten verborgen. Der Eröffnungssong präsentiert sich verträumt und wartet vor allem mit starken Strophen in großer Stimmvariation auf. Sammets Stimme perlt verspielt und umreißt den Handlungsort des Albums. Dann treten die Musiker aber ordentlich auf’s Gaspedal. Die Singleauskopplung “The Wicked Rule The Night” ist ein begnadeter Metal-Song, man will direkt anfangen zu headbangen. Großartig! Sammet hatte sicherlich Spaß, genau diesen Kracher als Single zu wählen, denn manch ein Kritiker unterstellt ihm ja gelegentlich, zu sanft und zahnlos zu sein. Wir reden hier immer noch von Metal, die Botschaft springt einen frontal an. Vereinzelt lassen sich Doublebass-Passagen ausmachen, das Tempo ist reichlich flott und erwähnenswert ist auch die schöne Gitarren-Solo-Bridge. Ralf Scheepers (PRIMAL FEAR) am Gast-Mikro ist ein wesentlicher Faktor, der diesen Song so außergewöhnlich gut und mitreißend macht.

Auch der Folgesong “Kill The Pain Away” hat es in sich. Egal, ob man schon vorher wusste, wer einen hier im Duett mit Sammet erwartet oder nicht, jedem ist sofort klar, wem diese Stimme gehört: Der begnadeten NIGHTWISH-Fronterin Floor Jansen natürlich. Genau wie Scheepers ist sie zum ersten Mal auf einem AVANTASIA-Album dabei und wenn man ihre Performance in diesem Song als Maßstab nimmt, dann ganz gewiss nicht zum letzten Mal. Tobias schrieb ihn ihr auf den Leib, nachdem sie mit dem anderen Angebot “Misplaced Among The Angels” zunächst nicht hundertprozentig warm geworden war bzw. Zweifel daran hatte, ob dieser wirklich zu ihr passt. Letztendlich ist aber auch der zweite Song mit Floor richtig gut geworden. “Kill The Pain Away” bietet alles, was man erwartet: Chöre, sogar dezente Synthesizer-Elemente und natürlich das famose Wechselspiel der beiden Stimmen. “The Inmost Light” markiert die Rückkehr von AVANTASIA-Urgestein Michael Kiske (HELLOWEEN) und wartet mit recht hymnisch anmutenden, schnell schreddernden Gitarren auf und schreit geradezu “Power Metal!”. Der bereits erwähnte, zweite Song mit Floor Jansen, “Misplaced Among The Angels” bekam auch ein sehr schönes, mystisches Video spendiert. Die Lyrics sind hier geradezu zärtlich und selbst das Outro verdient hier eine Erwähnung, denn Sammet flüstert einige Passagen. Warum wird nicht viel mehr geflüstert, an passenden Stellen? Das ist ein wundervolles Stilmittel mit großer Wirkung.

Das cool-rockige “I Tame The Storm” schließt sich direkt nahtlos an, der Chorus wirkt sehr dicht und intensiv und verfehlt seine Wirkung keineswegs, nicht zuletzt auch dank der hartrockigen Beiträge von Jørn Lande. Man traut dem Song durchaus eine sturmbändigende Wirkung zu. AVANTASIA sind selbst der Sturm. Ob die harten Brüche auf dem Album bewusst gesetzt wurden? Man kann “A Paranormal Evening With The Moonflower Society” eine große Vielfalt attestieren. Ein Blick auf das wunderschöne Cover des schwedischen Künstlers Alexander Jansson zeigt die Moonflower Society als eine Art Theatergruppe auf einer Bühne: Acht vollkommen unterschiedliche Gestalten verschiedenster Farbe, Größe und Ausgestaltung. Viele Andersartige kommen zusammen und entdecken als Gemeinsamkeit, dass sie sich vollkommen von der “Sunflower Society” unterscheiden. Man kann dies, so man das will, auch gleich auf die gesamte Schwarze Szene übertragen und die Tatsache bewundern, dass dermaßen viele verschiedene Individualisten sich trotzdem auf wenige verbindende Elemente einigen können. Nun, wenn die Moonflower Society und auch die Band AVANTASIA aus so vielen verschiedenen Charakteren zusammengesetzt ist, wieso sollte sich dann der musikalische Stil festlegen lassen? Jedenfalls folgt mit “Paper Plane” auf Platz 7 der Setlist wieder ein komplett anders gestalteter Track. Ein Lied, was direkt berührt und Emotionen überträgt. Beim Refrain hat man den Eindruck, dass hier ganz bewusst die Power zurückgefahren wurde. Der Song ist sanft und zerbrechlich wie ein Glasfigürchen oder eben das namensgebende Papierflugzeug. Und statt sämtliche Schleusen zu öffnen und ein Streicherinferno mit Tobias Sammets Stimme auf 100% abzufeuern, tritt die Komposition hier ganz bewusst einen Schritt zurück, wie um den Hörer nicht zu überfordern und ihn dazu zu bringen, die Ohren zu spitzen und genau auf den Text und die Message zu horchen, statt sich im Mahlstrom des Sounds zu verlieren. Ronnie Atkins und Bob Catley bestreiten den Chorus souverän und kongenial. Wenn man sich auf den fragilen Papierflieger einlässt, spürt man einen unbegreiflichen, süßen Schmerz. Dieser Song tut weh, stellt man überrascht fest. Und gerade das macht ihn so einzigartig. Allzu lange verweilen kann man in diesem Gefühl jedoch nicht, schließlich gibt es beim Titelsong “The Moonflower Society” wieder volles Programm! Bob Catley (MAGNUM) bildet hier Sammets Gesangspartner. Die Ingredienzen sind gänzlich andere als bei “Paper Plane”. Wir bekommen Disko-Keyboard, Stakkato-Anschläge im Chorus und eine großartige Streicher-Bridge. Hier werden auch mehr mystisch-magische Elemente eingeflochten. Da die “Moonflower Society” im Zwielicht verborgen bleibt und man sich ihr nicht ohne Einladung nähern kann, ist es vollkommen klar, dass hier einiges vage und geheimnisumwittert bleiben muss. Der zauberhafte Song schafft genau diese Atmosphäre: Dass man durch einen schwarzen Schleier zwar Schemen erahnen und entfernt auch Stimmen vernehmen kann, man aber keineswegs das ganze Bild zu Gesicht bekommt. Die Mondblumen sind keine Gemeinschaft für eine Nacht, man muss sich schon längere Zeit mit ihnen beschäftigen und vielleicht, ganz vielleicht wird man aufgenommen.

Man ist so fasziniert von den vielen Facetten dieses Werkes, dass man gar nicht bemerkt, wie der Mond allmählich verblasst und es langsam heller wird, denn wir nähern uns bereits dem Ende. “Rhyme And Reason” lässt einen wieder einmal mit offenem Mund zurück, denn was erleben wir hier für Klänge? Speed-Metal wie aus den Hochtagen von SONATA ARCTICA. “Wo kam denn dieses Element jetzt wieder her?”, fragt man sich erfreut. Man sollte bei aller Mystik und Emotion die Kraft von AVANTASIA nicht unterschätzen! Hier ist ordentlich Dampf im Kessel und so war es schon immer. Wer schon einmal eine der dreistündigen Shows der Band oder einen gefeierten Headliner-Auftritt auf Festivals besuchen durfte, weiß, dass hier mitternachtsblaue Seide mit Eisen verwoben wird. “Rhyme And Reason” gehört eindeutig zu letzterer Fraktion und geht ordentlich ab. Fast könnte man etwas außer Atem geraten. Eric Martin (MR. BIG) bildet hier den perfekten Counterpart mit seiner unverwechselbaren Stimme. In “Scars” kommt dann endlich der großartige Geoff Tate zu seinem Einsatz und bietet uns einen maßgeschneiderten Ohrwurm an. Im Midtempo angesiedelt, wird hier eine gangbare Brücke hin zum großen Finale geschlagen. Dieses hört auf den wundervollen Namen “Arabesque” und zieht uns ganze zehn Minuten in seinen Bann. Die Trommeln und Dudelsack-Melodien am Anfang erzeugen eine feierliche Atmosphäre, fast will man sich erheben und die Hand aufs Herz legen. Dann zieht der Sound deutlich an und man beginnt unwillkürlich zu headbangen. Mir ist sogar ein Bluetooth-Ohrstecker herausgeflogen, das will schon etwas heißen. In der Mitte wartet eine wohltuende, ruhige Verschnauf-Passage, ehe ab Minute sieben die Dudelsäcke zurückkehren und den Kreis schließen. Ein starker Ausklang mit Choruntermalung runden den Abend mit der Moonflower Society ab. Natürlich handelt es sich erneut um ein Konzeptalbum, ein Tobias Sammet hat immer ein Konzept. Daher empfiehlt es sich auch, trotz der Tempounterschiede das Album komplett durchzuhören. Ihr solltet vielleicht nicht direkt danach etwas völlig anders tun. Als ich mich direkt nach Ausklang des ersten Hördurchgangs der elften Staffel von “The Walking Dead” widmen wollte, geschah etwas Bemerkenswertes: Die Serie lief, aber ich konnte mich nicht auf die Handlung konzentrieren und mein Gehirn stieß diese völlig andere Welt entschieden ab. “A Paranormal Evening With The Moonflower Society” hinterlässt Spuren im Kopf und im Herzen. All die Gefühle zwischen den Zeilen beschäftigen einen noch länger als man meinen sollte. Man ist danach noch nicht bereit für etwas anderes, denn der Kopf versucht noch immer, den Kosmos der Mondblumen zu verstehen und zu durchringen, es arbeitet tief in dir drinnen und bindet deine Konzentration. Also hörte ich das Opus gleich ein weiteres Mal bis “Arabesque” durch und spürte den kleinen, feinen Nuancen nach, versuchte die Tautropfen von den Blütenblättern aufzufangen, auch wenn sie mir durch die Finger rannen. Als der Horizont sich orange zu färben beginnt, suchen die arabesken Gestalten ihre Schlafplätze auf und die Mondblumen schließen ihre Kelche, um auf die nächste Dämmerung zu warten, um erneut wispernd zusammenzukommen und ihre einzigartige Gemeinschaft zu pflegen.

Bewertung: 10/10

Tracklist

1. Welcome To The Shadows
2. The Wicked Rule The Night (feat. Ralf Scheepers)
3. Kill The Pain Away (feat. Floor Jansen)
4. The Inmost Light (feat. Michael Kiske)
5. Misplaced Among The Angels (feat. Floor Jansen)
6. I Tame The Storm (feat. Jørn Lande)
7. Paper Plane (feat. Ronnie Atkins)
8. The Moonflower Society (feat. Bob Catley)
9. Rhyme And Reason (feat. Eric Martin)
10. Scars (feat. Geoff Tate)
11. Arabesque (feat. Jørn Lande & Michael Kiske)

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