BETONTOD – „32 Jahre Chaos und Liebe“

„Wenn fünf Freunde eine Band gründen wollen, ohne Instrumente zu beherrschen, bietet sich nur eine musikalische Richtung an: Punkrock.“

Und so beschlossen fünf Freunde in einer lauen Sommernacht im Jahr 1990 auf einer Parkbank in Rheinberg, eine Band zu gründen. Inspiriert durch die musikalischen Idole der damaligen Zeit (und wohl auch der spielerischen Kompetenzen an den jeweiligen Instrumenten) und der Nähe der damaligen rheinischen Punk-Metropole Düsseldorf, gründeten sich BETONTOD. Das Motto “Provokation” auf die Fahne geschrieben, die oft genug aus Bier bestand, sollte das Quintett schon ein Jahr später ihren ersten Auftritt im legendären Jugendzentrum ZUFF in Rheinberg bestreiten. Damals konnte keiner ahnen, dass die Band 32 Jahre später immer noch aktiv sein wird. An diesem Abend standen unter anderem auch TOTEX auf der Bühne, die nun für das Bandjubiläum von BETONTOD nach einer Pause von mehr als zwei Dekaden reaktiviert wurden, um zusammen mit den Grünschnäbeln von einst zu feiern und wieder die Bühne zu teilen.

Diesmal sollte die Bühne direkt auch ein klein wenig größer sein. Schließlich ist die ENNI Eventhalle mit 1800qm etwas mehr als nur minimal größer als die Clubs und Jugendhäuser, in denen die Bands damals ihre ersten Gehversuche starteten. Und so steht man an einem lauen Freitagabend Ende September vor einer Halle in der Schlange gut gelaunter Fans, schaut sich um und beobachtet. Und fängt an sich zu erinnern. Wieviele der Anwesenden Besucher waren damals Anfang der 90er Jahre Punks, sind wohl in der Szene aufgewachsen oder kamen erst später damit in Berührung?
Und die Erinnerungen kommen wieder hoch. Die ersten Konzerte die man besuchte, waren nun mal Punkkonzerte. Mit 20 Mark Taschengeld im Monat hatte es halt nicht für die großen Rockkonzerte gereicht und den einzigen Nebenjob im Dorf, um sich mit Zeitungen austragen ein bisschen mehr Kohle für die Freizeit zu verdienen, hatte schon der große Bruder an Land gezogen. War eventuell für noch andere die finanzielle Situation der Jugend ein Grund, sich dem Punk zuzuwenden? Punk war nicht teuer, aber ehrlich. Punk hat nichts glorifiziert, aber alles gefeiert, was eine Feier wert war. Und Punk war immer eines – ein Gemeinschaftsgefühl. Zusammen dagegen, zusammen abseits der Gesellschaft, zusammen feiern, leben, lieben und lachen. Und natürlich die Nonkonformität zur Gesellschaft auch offensichtlich zu präsentieren.

Ich schaue mir den Wartenden neben mir an und frage mich, ob sich seine Mutter damals auch die Haare gerauft hat, weil der Sohnemann plötzlich rote Haare hatte, eine Sicherheitsnadel im Ohr hatte und Löcher in den Hosen cool fand und vom Weihnachtsgeld ein Paar Dr. Martens gekauft hatte. Heute steht er jedenfalls neben mir, stonewashed Jeans ohne Löcher an den Knien, ein Ramonesshirt, das wohl eher von H&M kommt statt von der Tour, graumelierte Kurzhaarfrisur und Turnschuhe, die echt bequem aussehen. Er hat wohl mitgedacht, denn der Einlass lief anfangs etwas schleppend und man hat sich ein bisschen die Beine in den Bauch gestanden. Aber dafür hatten viele auch ein Wegebier dabei. Früher war das immer Hansa und die leeren Dosen wurden rebellisch zertreten und in die Botanik befördert. Nun werden, Becks,- Jever- und König-Pilsener-Flaschen und -Dosen fein säuberlich in Reih und Glied neben dem Mülleimer gestellt. Sehr ordentlich, aber ist das noch Punk?
Dann geht es doch recht schnell mit dem Einlass und man bringt erstmal die Reste vom Wegebier weg. Ordentliche und saubere Toiletten, anstatt der vollgepi***ten Jugendhausklos von einst, deren Türen und Wände aus mindestens drei Schichten Aufklebern und diversen mit Edding aufgetragenen Parolen bestanden. Galadriel hat es einst so schön formuliert: „Die Welt ist im Wandel“. Aber ist das noch Punk?

Damals hatten wir unsere Getränke im Jugendhaus auch mit den Münzen aus der Hosentasche bezahlt und keine Verzehrkarten vorab löhnen müssen. Damals gab es, wenn überhaupt, von einer Band auch nur ein einziges T-Shirt mit einfachem Logo, entweder in L oder XL zu kaufen, und nicht eine komplette Kollektion, die die Wahl zur Qual macht. Ist soviel Merch eigentlich noch Punk?

Das nächste Getränk in der Hand geht es dann in die Konzerthalle, die sich langsam aber sicher füllt. Eigentlich sollte das Jubiläum in der benachbarten Heimatstadt Rheinberg stattfinden, jedoch musste aufgrund der geltenden Coronaauflagen und der erwarteten Besucherzahlen umdisponiert werden. Nach einer kurzen Anmoderation geht es dann auch schon los und die reaktivierten Jungs von TOTEX dürfen den Abend eröffnen. Und schon kommen wieder Erinnerungen hoch. Die Musik von TOTEX erinnert an die Anfänge von damals und die Jugend. Punkrock ohne viel Schnickschnack, reduziert aufs Wesentliche aber mehr als nur drei Akkorde. Vielleicht sind es die Jahre der Bühnenabstinenz gewesen, die dem Sänger ein wenig Rost in den Gelenken haben ansetzen lassen, oder die ungewohnt große Bühne ein wenig verunsichert hat, Bewegungsfreude schaut anders aus, und leider kommt entsprechend nicht allzuviel Stimmung auf, was sich jedoch bei den folgenden EL POSTRE schnell ändern sollte! Die Band aus Kamp-Lintfort hatte ebenfalls keine lange Anreise und ist energiegeladen mit deutschsprachigem Rap-Metal am Start. El Postre heißt aus dem Spanischen übersetzt „Nachtisch“, aber für ein süßes Dessert ist die Musik des Quintetts doch etwas zu deftig – und nach Menüfolge des Konzertes immer noch eine Vorspeise, die es jedoch in sich hat! Pikante Texte, feurige Raps, melodische Samples tun ein Weiteres, um diese akustische Vorspeise zu einem akustischen Kulinarium zu verschmelzen. Dem Publikum scheint auch zu schmecken, was es hört und nach einem gelungenen Auftritt als Appetizer haben die Fans nun umso mehr Appetit auf BETONTOD.

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Um halb zehn ist es dann endlich soweit und die Herren Jubilare entern endlich die Bühne mit einem “Gloria” und eröffnen ein fulminantes Set vor einem Meer aus geschwenkten Fahnen im Publikum. Vom ersten Ton an hat Meister das Publikum im Griff, das genauso textsicher mitsingt, wie der Meister selbst! Dass am heutigen Abend “Keine Popsongs” gespielt werden, war zu erwarten, und so erfreut sich das Publikum an dem quasi ‚Best-Of‘ der Band. Denn nach 32 Jahren Bandgeschichte ist eine ordentlich Sammlung an Songs zusammen gekommen, von denen die Hits wie “Viva Punk” und “Küss mich” natürlich ebenso wenig fehlen dürfen wie die musikalische Anatomielehre “Hals, Maul, Arsch, Gesicht” und der Hymne gegen die Dehydration “Wir müssen aufhören weniger zu trinken”. Aber dafür haben ja schon die Verzehrkarten gesorgt, die mit 30€ oder 50€ Guthaben auch dafür Sorge tragen, dass der geneigte Hörer am Abend keinen Durst erleben muss. Entsprechend “HömmaSammaWommaNomma” ‘n Bier holen gehen, ist auch problemlos möglich. Zwar ist die Halle gut gefüllt, aber Gedränge gibt es nur in den vereinzelten Pogo-Pits, die früher auch mal heftiger waren. Ja, wir sind älter geworden, die Knochen brechen schneller und wir haben gelernt, dem Nebenmann nicht mit Absicht blaue Flecken zuzufügen, da essigsaure Tonerde zum Abheilen von Hämatomen derzeit beim DM ausverkauft ist. Ist das dann eigentlich noch Punk? Ja, das ist es! Es ist klar, welchem Lager die Band angehört und dies wird auch in einer Ansage klar zur Sprache gebracht. Zwar schwelgen wir in den Zeilen “nichts hat sich geändert”, aber rückblickend auf die letzten Jahrzehnte hat sich doch viel verändert… Früher im Kadett zum Konzert gefahren, ist es heute der Meriva, weil die Kids ja im Auto Platz brauchen. Ist das noch Punk?
Ja, das ist es! Denn eins steht fest, was auch dieser Abend immer wieder in Erinnerung ruft – solange das Herz am rechten Fleck schlägt, nämlich links – sind wir alle noch ein bisschen Punk. Auch mit sauberen Klamotten ohne Löcher, Balayage und Strähnen statt Iro, Becks statt Hansa. Und so lange BETONTOD noch rocken und wir noch dazu feiern, bleiben wir im Herzen immer noch ein bisschen Punk!

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