Plage Noire 2023 – Geschichten vom schwarzen Strand – Samstag

Schwarz und Rot sehen zusammen toll aus, eine schöne Farbkombination, klare Kontraste, vielfältig in Formen und Farbabstufungen kombinierbar, manchmal ist es aber auch nur ein Grufti mit Sonnenbrand.
Schon am Morgen des zweiten Tages war klar, dass es ein gemütlicherer, trockener und frisurfreundlicherer Tag werden würde, denn statt Regen und Grau in Grau war Sonnenschein angekündigt. Begrüßenswert, weil die Gäste an Tag zwei durchaus zahlreicher angereist waren und es sich so an der frischen Luft angenehm verlaufen konnte. Nach kurzer Lagebesprechung verteilten wir uns wieder, doch für das tolle Wetter hatte ich (noch) keine Zeit, denn mein erster Weg führte mich direkt wieder in den Salle de Fête zu BEYOND OBSESSION. Denn am zweiten Tag des Plage Noire oblag es Nils, Marco und Sören, diesen musikalisch einzuläuten und die Leute in Stimmung zu bringen.
Im Saal angekommen, blickte ich in frisch muntere Gesichter voller Vorfreude, aber vernahm auch manch schlaftrunkenes Gähnen jener, die es zwischen nächtlicher Feier und Fortsetzung des Plage gerade noch geschafft hatten, ein Katerfrühstück einzuschieben.
BEYOND OBSESSION eröffneten also den Reigen der großartigen Bands, die den Fans heute einiges bieten würden. Mit ihrem coolen, poppigen 80er-Electro-Sound, der an Größen wie DEPECHE MODE und stellenweise an AHA erinnert, heizten die Jungs dem Publikum, welches es sich trotz der frühen Stunde nicht hatte nehmen lassen zu erscheinen, ordentlich ein. Allerdings war der Saal leider nicht so gut gefüllt, wie er es hätte sein können, was der Partystimmung, die schnell aufkam aber keinen Abbruch tat. BEYOND OBSESSION lieferten eine dynamische, energiegeladene Show ab, die gleichermaßen cool wie auch souverän war.

“This is a song for the dead in my family
For all the long gone waiting there for me
Your not telling the truth are you”

Die Anzahl der wirklich Musikinteressierten überwog aber und so traf Nils’ Gesang auf größtenteils erwartungsvoll gespitzte Ohren. Mit der Zeit füllte sich auch der Raum und es kam etwas Bewegung in die Anwesenden. Den dreien blieben nur 45 Minuten, um die Leute für den weiteren Tagesverlauf musikalisch in Stimmung zu bringen, was mit Songs wie “Scientists”, “Naivity”, “Speaking Of A Devil” und “New Breed” auch außerordentlich gut gelang. Im Anschluss mussten dann die Jungs von PRIEST dort anknüpfen, wo BEYOND OBSESSION aufgehört hatten.

BEYOND OBSESSION

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Fotos: Birger Treimer

Im Zelt Le Chapiteau eröffneten TVINNA am Samstag das Programm. Die Band, welche u.a. aus Mitgliedern von FAUN und ELUVEITIE besteht, meisterte ihren zweiten gemeinsamen Auftritt mit Bravour. Leider wirkten die vier Musiker auf der großen, recht spärlich bestückten und dekorierten Bühne etwas verloren. Das Publikum zeigte dennoch reges Interesse und füllte das Zelt schnell bis zu ca. der Hälfte der maximalen Kapazität. Mystisch und zu Beginn recht ruhig zog die Band rund um Frontfrau Laura Fella die Fans mit ihrem atmosphärischen, elektronischen Folk-Rock in ihren Bann. Songs wie „Inside The Dark“ und „The Echo“ boten bisher selten gehörte Klangkombinationen, welche live noch größer und beeindruckender rüberkommen, als auf CD. Drummer Alain Ackermann und Gitarrist Rafael Salzmann rockten ordentlich ab und boten eine perfekte Ergänzung zu Lauras elfengleicher, kraftvoller Stimme und den geheimnisvollen Klängen.

Tvinna Plage Noire

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Fotos: Birger Treimer

Bei HEIMATAERDE regierte nun der Mittelalterrock, das Zelt war bereits gut gefüllt als die Band in gewohnter Templerkluft Songs wie „Gotteskrieger“, „Der Verfall“ oder „Templerblut“ anstimmten. Der Mix aus Mittelalterklängen, Gitarre und brachialen Beats überzeugte schnell, immer unterstützt von Ashlars Gesang und den kreisenden Schwertern. Die Band riss das Publikum so zur frühen Stunde bereits mit und ließ die Hüften/Köpfe/Äxte kreisen. Die Pyros haben hier schon etwas gefehlt, dennoch ein solider Auftritt.

HEIMATAERDE Plage Noire

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Fotos: Birger Treimer

Apropos Mittelalter: Mich für meinen Teil zog es an die frische Luft, nicht nur wegen des schönen Wetters, sondern auch weil es den liebenswerten MYTHEMIA während des Plage Noire überantwortet worden war, das schwarze Volk draußen auf der Freilichtbühne inmitten von Speis, Trank und Shoppingmöglichkeiten mit ihrer Musik zu unterhalten. Da ich die Musik von Thomas, Rodrigo und ihren Freunden sehr schätze, war es mir eine selbst auferlegte Pflicht und ein Vergnügen zugleich, diesen folkigen und rockigen Klängen im Sonnenschein eine Weile zu lauschen. Das Sextett spielte am Samstag nicht nur in wechselnden Sets gleich dreimal auf, sie folgten auch dem Motto “Mitmachen ist mehr” und so gehörte es auch zum festen Bestandteil der Auftritte, den Anwesenden etwas Initiative abzuverlangen.
MYTHEMIA besteht aus Musikern, die mit Leidenschaft, großer Spielfreude und einem hohen musikalischen Können seit Jahren in der deutschen Mittelalter-Szene zu Hause sind. Das Set bestand aus vorwiegend selbst geschriebenen, deutschsprachigen Songs gemischt mit einigen Irish Traditionals.


“Es zieht ein Sänger durch das Land,
der setzt Akkorde in den Sand.
Verschreckt beim Singen Maus und Vieh,
spielt immer anders, schön ist’s nie.”

Manch einem Plage-Besucher war die Truppe nicht unbekannt und so wurde auf den Bänken und den Stühlen teilweise auch munter mitgesungen. Man hätte sich zwar wünschen können, dass ihr Erscheinen auch vorab im Netz angekündigt worden wäre, aber sie schafften es auch so mit einer ordentlichen Portion guter Laune und Lebensfreude, ihr Publikum anzuziehen und manch einen spontan vorbei Flanierenden länger als geplant verweilen zu lassen.
An beiden Festivaltagen bot der kleine, die erwähnte Bühne umgebende Mittelaltermarkt „Le Petit Marché Médiéval“ eine Auszeit vom Festivaltrubel. Einige Händler boten ihre Waren, wie gravierte Gläser, Lederwaren, Schmuck und Kleidung feil und eine Taverne versorgte die Gäste mit köstlichen Spirituosen, Met und Bier. Die ganze Atmosphäre auf dem „Le Petit Marché Médiéval“ war durchweg sehr fröhlich und ausgelassen. Vor allem bei dem am Samstag sonnigen Wetter genossen viele Gäste diese Auszeit am Rand des eigentlichen Festivals.

Mythemia Plage Noire

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Fotos: Birger Treimer

Trotz aller mitreißenden guten Laune behielt ich auch stets einen Blick auf der Uhr, denn ich wollte zum nächsten Punkt auf meiner “Liste” keinesfalls zu spät kommen, der Lesung von CHRISTIAN VON ASTER. Ungewöhnlich war es durchaus nicht nur für mich, dass die Aster’sche Lesung, wie schon die vorige Lesung vom Tatortreiniger, parallel zu den Musikveranstaltungen stattfand und so war ich durchaus gespannt, wie dieser Programmpunkt angenommen werden würde.
Meine Bedenken waren aber unbegründet, denn kaum, dass ich mich von der Bühne löste auf der MYTHEMIA noch spielten, traf ich auf eine Schlange von Menschen, die sich für die Lesung im Cri de la Mouette artig angestellt hatten. (Eine recht lange Schlange, wie ich anmerken möchte.) Der Mann, dem sie zu lauschen alle anwesend waren, fiel dieser Umstand auch auf und einiges an Bedenken zerstreute sich bereits, während sich der Raum bis auf den letzten Platz füllte. Einige mussten sich schließlich damit abfinden, der Lesung am Rande stehend beizuwohnen. Die Themen der nächsten eineinhalb Stunden waren zahlreich, man beschäftigte sich kurz mit der Frage, warum LeFavre zu später Stunde nicht dicker bekleidet am Strand verweilte, anderes handelte von den zahlreichen und illustren Abenteuern einer launischen Liebesbrieftaube, die als Christbaumengel in einem Nazi-Haushalt landete und sich zwischen Devotionalien und Hakenkreuz-Weihnachtsbaumkugeln einen epischen Kampf mit einer Hauskatze liefern musste oder in einem MMA-Fight die Karriere einer Mafiapaten-Möwe beendete. Simple Wahrheiten über die Liebe waren nicht weniger zahlreich als die Lacher des Publikums und so manche Träne der Begeisterung wurde aus dem Augenwinkel getupft. Sollte CHRISTIAN VON ASTER irgendwo in eurer Nähe eine weitere Lesung geben, es sei jedem empfohlen hinzugehen, beim Plage Noire war er wieder grandios. Denn das Konzept des Autors enthält natürlich zu einem hohen Prozentsatz einfach grandios unterhaltsame Texte. Doch dazu kommt auch seine unnachahmliche Art, diese vorzutragen. Nun ist CHRISTIAN VON ASTER das Entertainment keineswegs in die Wiege gelegt. Der Autor leidet unter Depressionen und liest und spielt dagegen einfach grandios mutig an. Seine Plaudereien und humorösen Ansagen zwischen den Lesungsteilen sind sicherlich genauso der Grund, wieso seine Lesungen immer zuhörertechnisch aus allen Nähten platzen wie die große Vielfalt in seinen Texten. Dazu kann der Mann auch noch fulminant dichten – da kann man schon einmal neidisch werden. Zwischen Kurzgeschichten, Poemen und den bereits erwähnten Lebens- und Liebesweisheiten zaubert der Tausendsassa zwischendurch auch noch ganze Romane aus dem imaginären Hut und wäre das nächste, was erscheint, ein violettes Kaninchen, würde das Publikum sich auch nicht mehr wundern. Ganz ähnlich wie in Cornelia Funkes berühmter “Tintentrilogie” sind VON ASTERS Texte übrigens bisweilen dermaßen machtvoll, dass einzelne Elemente scheinbar daraus herausgelesen werden können. Die “Mitternachtshüpfburg – Fun for the Finster” nimmt laut Ankündigung des Schöpfers bei den kommenden Events Wave Gotik Treffen und Nocturnal Culture Nights tatsächlich stoffliche Gestalt an. Sobald etwas fiktiv Ersonnenes den Sprung in unsere Wirklichkeit schafft, kann man einem Autor getrost konstatieren: Er hat es wahrlich geschafft, denn seine Feder war mächtiger als alle Schwerter.

Die bereits erwähnten PRIEST hatten derweil das Szepter im Salle de Fête übernommen. Die Schweden, die in diesem Jahr mit einer Coverversion von DEPECHE MODEs “Personal Jesus” von sich reden gemacht hatten, traten wie gewohnt in schwarzen Stachelmasken auf und spielten natürlich vor allem Songs des letztjährigen Full Lenght-Albums “Body Machine”. Der eigenwillige Synthpop changiert derweil noch zwischen Geheimtipp und etabliertem Tanzgaranten. Die BEYOND OBSESSION-Fans schienen größtenteils geblieben zu sein und so konnte man sich zwar gut bewegen, hatte aber auch nicht zu viel Platz.

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Fotos: Cynthia Theisinger

Zuvor köstlichst unterhalten, entschwand ich nach der Lesung. Waren doch ZERAPHINE die nächsten, denen ich lauschen wollte. Viel Zeit blieb mir nicht, bis Sven und Konsorten im Le Chapiteau (Zelt) aufspielen sollten. Auf meinem Weg dorthin schlängelte ich mich etwas ungeschickt durch den Fashion Walk in der Galerie. “So viele hübsche Menschen in faszinierender, aber teilweise auch kurioser Mode und so wenig Zeit.”
Im Zelt herrschte bereits reger Andrang und zahlreich wurde mit großen Augen auf die gefühlvollen und rockigen Klänge der Jungs gewartet. Unter Applaus startete man und das Publikum zeigte sich für jeden Song dankbar.
“Ich bin zwar schon für mesh hier, aber Zeraphine habe ich ewig nicht gesehen, herrlich” : der vermeintlich ehrlichste Satz neben der vielen Begeisterung anderer. Über die Textsicherheit der Anwesenden muss ich nicht viel sagen, die langjährigen Fans waren viele und doch war ich im Zelt nicht zufrieden. In allen Ecken wurde nebenher zu laut gequatscht, rumgeblödelt. Ich verließ das Zelt, suchte mir dahinter direkt vor den Dünen eine Bank in der Sonne und lauschte der Musik mit geschlossenen Augen.

“When you fell into my arms
Appearing so frail, if you ever were
And you told me a thousand things
I’ve never dreamt about”

“Darf ich? Drinnen ist es mir zu unruhig.” Jemand setzte sich ans andere Ende der Bank, es ging wohl nicht nur mir so. Während des letzten Songs verabschiedete ich mich, im Saal sollten demnächst NOISUF-X spielen.

ZERAPHINE Plage Noire

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Fotos: Birger Treimer

Aber vorher gab es natürlich noch eine andere Band mit “x” und zwar gleich mit zweien: [X]-RX hatten zum Tanztee geladen. Das wohl sportlichste und dynamischste Duo des Festivals schert sich nicht um Ort, Zeit und Raum eines Auftritts. Man weiß genau, was man hier bekommt, nämlich Muskelkater. Und trotzdem zieht es einen ganz masochistisch immer dorthin, wo die Leute “kein Herz haben” und “Hardbass in your face” spüren wollen und auch einfordern. Pascal und Jan haben natürlich wie immer eine Riesenparty nahezu ohne Atempausen geliefert.

[X]-RX

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Fotos: Birger Treimer

Ich, Marvin, machte mich hingegen auf in die “Alm” bzw. “La Rotonde”, wie die dritte Bühne ja während des Festivals hieß. Das erste Highlight für mich stand nämlich auf dem Programm: MENTAL EXILE. Das Projekt von Frontsänger Damasius Venys und seiner Frau Daniele flog lange Zeit etwas unter dem Radar, aber im Zuge des rasanten Aufstiegs von FUTURE LIED TO US entdeckten endlich auch mehr Leute die außergewöhnliche Stimme von Damasius. Ist es nicht häufig so? Während sich in den Charts, ja auch in den DAC, häufig die immer gleichen Namen tummeln, bekommen wirklich tolle musikalische Perlen kaum Aufmerksamkeit. Den Charme von MENTAL EXILE machen jeweils die Retro-Synth-Rhythmen einer- und die Stimme des Fronters andererseits aus. Palmen, Autos, coole Outfits und alte Filme… wenn man die Augen schließt und auch nur den Hauch einer Beziehung zu den Achtzigern hat, erschafft die Musik von MENTAL EXILE mühelos entsprechende Bilder vor dem geistigen Auge. Und auch hier im La Rotonde, das rundum rappelvoll war, sah man es den Gesichtern der ZuhörerInnen einfach an: MENTAL EXILE macht glücklich. Das Refugium für den Geist, das hier geschaffen wird, tut vielen einfach gut. Doch ob der Auftritt wirklich funktionieren würde, war im Vorfeld keineswegs gesichert gewesen, litt Damasius doch unter Husten. Doch als er dann auf der Bühne stand, in seinem gemusterten Hemd mit Sakko fiel alle Last von ihm ab und er ging ganz in seiner eigenen Musik auf und auch die Stimme spielte mit. Ganz der Profi, performte er Songs wie “One Of Us” und “The Night Is Mine”, begleitet von Soundmasterin Daniele. Beim letztgenannten Song wurden sogar zwei Kinder mit auf die Bühne geholt und erwiesen sich als versierte Tänzer und Anheizer für das Publikum. Und so war der Auftritt von MENTAL EXILE vor allem eins: Ein ganzes Meer voller toller Gefühle. Dass dafür noch Platz ist auf einem Grufti-Festival zwischen Kunstblut, Bässen, die dich rückwärts zur Tür rausdrücken und Gitarrengeschredder beweist, dass es Hoffnung für uns alle gibt. Vielen Dank an die Veranstalter, dass dieser Farbtupfer zugelassen wurde.

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Fotos: Mirco Wenzel

Die Seele war dank MENTAL EXILE wieder tadellos gekleidet, aber auch das die Seele beherbergende Vehikel wollte angemessen verhüllt werden. Auch an Tag 2 gab es natürlich wieder etwas für die Modebegeisterten zu sehen in Form der Fashion Walks. Diesmal wurden die Models von den Designern Rabenhaupt, Your Shape und Schnittmuskel eingekleidet und man konnte zahlreiche Anregungen für das eigene Outfit einsammeln oder einfach nur staunen, was kreative Geister erschaffen können:

Rabenhaupt Design

Fashion Show RABENHAUPT

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Fotos: Birger Treimer

Your Shape

Fashion Show Your Shape

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Fotos: Birger Treimer

Schnittmuskel

Fashion Show Schnittmuskel

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Fotos: Birger Treimer

Nach einer guten Stunde Umbaupause im Salle waren nicht mehr viele der zuvor bei [x]-RX tanzenden Plage-Besucher anwesend, was eigentlich verwunderlich war, schlugen NOISUF-X doch musikalisch in eine ganz ähnliche Kerbe, nur mit noch weniger Gesang. Aber kurz bevor Jan zusammen mit seinem Kumpel Thomas die Bühne betrat, füllte es sich zum Glück wieder zusehends.
Ohne viel Gequatsche gab es von den beiden über eine Stunde was auf die Ohren. Die Leute jubelten, es wurde getanzt und man vergaß, dass draußen strahlender Sonnenschein und erst früher Abend war, während der Sound einen langsam mit einem nächtlichen Clubbesuchsfeeling ansteckte. “Hit Me Hard”, “Banzai”, “Count to 7”, “Warning”, “Who Am I?” und einige andere Tracks, die regelmäßig den Dancefloor in Bewegung bringen, Jan gab sie dem Publikum, das nahm sie dankend an. So ein NOISUF-X-Konzert ist ziemlich anstrengend, aber merkwürdigerweise scheint die Energie, die dieser basslastige Sound spendet genau der Energie zu entsprechen, die man beim Tanzen “verbraucht”. Hier sollte man mal eine wissenschaftliche Studie zum Perpetuum Mobile machen. Es wäre witzig, wenn sich viele Wissenschaftler über Jahrhunderte an diesem Phänomen zu Tode geforscht hätten, während Jan L. aus NRW das Ding mal eben nebenher erschaffen hat. Ich erinnere mich auch an einen denkwürdigen Abend während des WGTs im weit abgelegenen Innenhof des Non-Tox-Clubs als unzählige Cybergoth zu über zwei Stunden NOISUF-X Kreise in den Sand- und Schotterboden tanzten, die es als unerklärliches Alien-Phänomen am nächsten Morgen mühelos in die Lokalpresse geschafft hätten. Der Boden des Salle de Fête erwies sich zum Glück als widerstandsfähiger.

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Fotos: Cynthia Theisinger

Wem das alles zu noisig war, den empfing MESH im Hauptzelt mit offenen Armen. Das letzte Studioalbum der Briten “Looking Skyward” ist nun schon sieben Jahre her, aber das ändert nichts daran, dass Mark und Richard noch immer einen Platz in unseren Herzen haben und immer haben werden. Und ganz untätig war man natürlich nicht. Letztes Jahr erschien z.B. der Film “Touring Skyward – A Tour Movie” auf Bluray. Die Slots im Le Chapiteau waren mittlerweile auch angemessen für solche Schwergewichte wie MESH, anderthalb Stunden durften sie die Anhänger verzaubern und spielten natürlich alle Hits wie “Born To Lie”, “My Protector”, und “Kill Your Darlings”. Bei MESH sieht man im Publikum oft besonders viel Textsicherheit, denn die Texte sind ein ganz wichtiger Bestandteil des Erfolgs. Bei dem großartigen, massiven Electro-Sound, den die Briten hervorbringen, hätte man sich auch zurücklehnen und die Leute einfach nur tanzen lassen können. Aber das kommt für Mark natürlich nicht in Frage, hier ist jede Menge Gefühl drin und das muss raus. Der Auftritt beim Plage Noire gehörte für viele zu den Höhepunkten des Festivals und das völlig zurecht.

Mesh Plage Noire

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Fotos: Birger Treimer

Als einer DER Newcomer traten JEREMIAH KANE , vier junge Musiker aus Polen auf Bühne Nummer 3 auf. Die Band vereint harten Rock und Metal mit feinen Synths und einem Hauch 80s-Flair. Generell haben sich JEREMIAH KANE aber musikalisch keine Grenzen gesetzt und experimentieren viel. Das Set, welches sie im kleinen, aber gerade was die Akustik angeht feinen La Rotonde darboten, war rein instrumental. Von Anfang an bebte die “Alm”, wie das La Rotonde sonst heißt. Das Publikum ging gut ab und ließ sich von der Band mitreißen. Die große Spielfreude, hohe Professionalität und das große musikalische Talent der coolen Jungs von JEREMIAH KANE überzeugten schnell und verwandelten das La Rotonde mit Songs wie dem rasanten „Lights out“ oder „Never Back Down“ in einen Rock-Club der Extraklasse.

JEREMIAH KANE

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Fotos: Birger Treimer

“Stille ist ein Privileg”

Nachdem bei NOISUF-X der letzte Song ausgetanzt war, kehrte erst einmal Ruhe ein. Es herrschte rege Fluktuation im Publikum, denn jetzt folgte auch im Salle de Fête der für manche die emotionale Klimax des Tages. DIORAMA sollten sich die Ehre geben und die Umbaupause war gefüllt mit Geschichten, welchen Bezug einige zu der Musik hätten, auf was für Songs man hoffte und wie groß doch die Freude wäre. Mich ärgerte ein wenig, dass FUTURE LIED TO US ungeplant zeitgleich mit Felix, Torben, Zura und Markus spielen sollten, aber FLTU hatten den Slot von DIE SELEKTION übernommen, die krankheitsbedingt kurzfristig gecancelt hatten. Gerne hätte ich mir beide Bands angesehen, aber ich hatte zu viele DIORAMA-Konzerte in letzter Zeit verpasst, um mir die Gelegenheit jetzt wieder entgehen zu lassen. Viele Fans haderten mit dieser Überschneidung und rissen sich fast entzwei, aber letztendlich musste man sich entscheiden oder aber je ein halbes Set ansehen.

“These horizons will stay out of reach
It bеcomes clearer that it is me who needs to turn around again
These horizons will stay out of reach
It becomes clearer that it is me who needs to change”

Ich war froh über meinen Gehörschutz, als die vier dann pünktlich um Viertel vor neun vom versammelten Publikum lautstark begrüßt wurden und mit ihren Songs eine Welle der Begeisterung nach der anderen auslösten. Das Set war “lauter” als von manchen erwartet, kraftvoller, mit einer Menge Energie und nur wenig leisen Tönen, aber trotz allem gefühlvoll und das Publikum zeigte sich begeistert. Obwohl ich mehr vor Markus und Zura stand, Gitarre und Schlagzeug direkt vor mir, war der Sound wunderbar ausgeglichen, meinen Respekt an die Ton-Crew dafür.

“Don’t be concerned about anything but the essentials
There’s a greater plot in motion
You’ve played all the right moves
Anything wins now
You’re the ghost in the firestorm generator
Let them burn!”

Mit “Iisland” (FADERHEAD) und “Horizons” (ZOODRRAKE) wurden auch zwei Songs in der Remix-Version gespielt, was bei Bands wahrlich nicht oft vorkommt. Im Hause DIORAMA weiß man passionierte Remixe der Kollegen zu würdigen.
DIORAMA kehrt das Innerste nach außen, konfrontiert einen schonungslos mit den dunklen Flecken auf unserer Seele. Das kann unangenehm sein, aber es ist auch immer mal wieder notwendig. Die Füße tanzen beschwingt, aber die Stimmen und Texte von Torben und Felix schneiden tief und so ist man seltsam ambivalent in diesem Strom aus Musik gefangen. Egal ob das kryptische “Kein Mord” oder das eindringliche “HLA”, bei DIORAMA brechen regelmäßig alle Dämme, die man mühsam um seine Seele errichtet hat. Man muss auch einfach die Einheit der vier Menschen auf der Bühne bewundern. Die Bandmitglieder haben sich schon früh kennengelernt. Im Sandkasten teilweise und später beim Studium. Und das merkt man einfach auch, weil alles ineinandergreift und harmoniert und dieses Brennglas direkt ins Herz wirkt nur deshalb so kraftvoll, weil alle vier Bandmitglieder ihre Kräfte perfekt zu einem Strahl vereinen. Ich höre oft, das sei doch alles zu verkopft, zu kompliziert, nicht eingängig genug. Dazu kann ich nur sagen: Entweder man spricht “Diorama” oder nicht. Man kann die Vokabeln lernen, aber die Grammatik muss das Herz schon selbst draufhaben. Bis zum letzten Ton wussten die vier uns Anwesende zu begeistern und nach angemessen begeistertem Abschiedsapplaus legte sich ein zufrieden geseufztes “Hach, das war schön.” über den Saal.

Diorama

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Fotos: Birger Treimer

Trotz der starken “Konkurrenz” von DIORAMA hatten natürlich auch etliche ZuhörerInnen ihren Weg ins La Rotonde zu FUTURE LIED TO US gefunden. Die Supergroup aus Krischan Wesenberg (ROTERSAND), Vasi Vallis (alle Electro-Bands) und Damasius Venys (MENTAL EXILE) hat sich schon längst ihren Platz am Firmament der Szene erobert. Damasius bestritt nun schon den zweiten Auftritt auf Bühne Nr. 3, diesmal im Merch des Festivals gekleidet. Zum Glück hielt die Stimme auch hier noch, man merkte ihm die Angeschlagenheit keineswegs an. Respekt! Da die Band gar nicht eingeplant gewesen war und nur die ausgefallenen DIE SELEKTION ersetzt hatten, fanden sich auch zahlreiche ZuhörerInnen im La Rotonde ein, die FLTU zum ersten Mal hörten. Man konnte danach in den sozialen Medien und auch unter den Anwesenden vor Ort etliche bewundernde Stimmen hören. Die Band hat also definitiv Fans dazugewonnen. Nun, soviel Flexibilität muss auch belohnt werden. Nach diesem Auftritt konnte man den Bandnamen auch getrost missverstehen und konstatieren: Die Zukunft behauptete, es gäbe hier eine Lücke im Tagesplan, die man höchstens mit sinnlosem Herumlaufen, der siebten Bratwurst oder Toilettengängen zu füllen vermocht hätte. Stattdessen bekam man ein Bonuskonzert der Extraklasse und konnte sich wunderbar die Seele aus dem Leib tanzen. Auf diese Art würde man gern öfters angelogen werden, nicht wahr?

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Fotos: Mirco Wenzel

Als Co-Headliner des zweiten Festivaltages gaben sich LACRIMOSA hernach im Zelt die Ehre. Frontmann und Mastermind Tilo Wolff kam auf die Bühne und zog das Publikum sofort in seinen Bann. Wie ein Dirigent eines riesigen Orchesters, hatte der Mann mit der unbeschreiblichen Aura die Fans von Anfang an im Griff. LACRIMOSA boten mit einem Soundgewitter aus treibenden Drums und virtuosen Gitarren, sowie einer bis ins letzte Detail ausgefeilten Lightshow ein Erlebnis, das man definitiv als eines der Highlights des Festivals bezeichnen konnte. Das Le Chapiteau war bis zum letzten Platz gefüllt. Die Stimmen von Tilo und Anne Nurmi verschmolzen zu einer unvergleichlichen Symbiose und verzauberten alle Anwesenden im Saal. Im Grunde brauchte es auch wieder einen Programmpunkt, der zum Nachdenken und Mitfühlen anregt. Natürlich darf bei LACRIMOSA auch getanzt werden, aber allzu sehr verlieren sollte man sich im Sound dann doch nicht, sonst entgeht einem noch eine Facette der Darbietung.

Lacrimosa Plage Noire

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Fotos: Birger Treimer

Einige waren nach DIORAMA mit einem breitem Lächeln aus dem Saal entschwunden, während andere sich, ebenso wie ich, auf DIE KRUPPS einstellten, den Headliner des Abends im Salle de Fête. Ich war sehr neugierig welche Songs die vier im Gepäck haben würden, aber erstmal konnte man zusehen, wie die Bühne hergerichtet wurde. Unvermittelt stand ein rothaariger, aufgedreht sympathischer Typ neben mir, der ebenfalls neugierig beäugte, was da so auf der Bühne vor sich ging, hinsichtlich seiner Frisur konnte er froh sein, dass sich meine Wetterprognose bestätigt hatte. Man quatschte ein wenig, er hätte aber gleich zu tun, die Umstehenden wirkten dabei nervös irritiert. Je näher der Auftritt rückte, desto kuscheliger wurde es auch vor der Stage. Manch einer hatte auch schon etwas über sein Limit gebechert und wurde anstrengend. Das Problem erübrigte sich zum Glück, als es unvermittelt dunkel wurde und Jürgen zusammen mit Nils, Paul und Ralf auf der Bühne auftauchte.
Eineinhalb Stunden blieben den Jungs, um den Saal abzureißen und sie hatten dafür den richtigen Sound, genug Energie und passende Tracks im Gepäck. Schon zu Beginn wurde mit “Blick zurück im Zorn”, “Dawning Of Doom” und “Schmutzfabrik” Vollgas gegeben. Jürgen mag derjenige im Raum gewesen sein, der die längste Anreise gehabt haben musste, aber er ließ es sich nicht anmerken. Zwar ging sein Gesang manchmal im Sound der anderen unter, aber das Publikum konnte sowieso jede Zeile mitsingen.

“My brain is haunted by this scent
It takes me back to a past event
It’s like a drug that I need every day
I need to preserve it, have to get it my way”

Teilweise von den Rohren verdeckt, die Jürgen im Rhythmus der Musik schlug, tobte sich Paul so unter vollem Einsatz am Schlagzeug aus, dass einem schwindelig werden konnte. Niilz war erst links, dann wieder rechts, dann wieder dort, dann hier und dann wieder links (So hatte mir ein Freund zumindest grob seinen Plan geschildert). Im Set fehlten auch nicht Hits wie “Robo Sapien” und “Machineries of Joy” und die Zeit verging wie im Flug.

“Rammt sie!
Rammt sie!
Rammt sie!
Mit voller Kraft!”

Der Plan sah nach der Zugabe noch den “totalen Krieg” mit viel “bumms schepper quietsch” vor und so flogen nach “Bloodsuckers” die schweren Rohre krachend von der Bühne ans Geländer und in den Bühnengraben, während Nils noch unter Schrecken und Jubel der Anwesenden eine seiner alten Gitarren damit zerstörte. Was für ein Abriss. Ich war langsam etwas platt, aber nicht minder zufrieden als die meisten anderen im Saal.

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Fotos: Cynthia Theisinger

Auch im La Rotonde war die Headliner-Zeit angebrochen. Spät am Abend gaben sich hier SOULBOUND die Ehre, welche sich vom Geheimtipp zu einem, wie sich zeigte, „Da müssen wir hin“-Act entwickelt haben. Trotz inzwischen recht frischer Außentemperaturen und einer ordentlichen Brise standen die Fans vor dem La Rotonde, welches definitiv viel zu klein für SOULBOUND war, an. Der Raum entwickelte sich innerhalb der ersten Sekunden der Show zum brechend vollen Hexenkessel und auch die Fans, die aufgrund eines Einlassstops vor der Almhütte warten mussten, feierten ekstatisch mit. Leider war Gitarrist Felix krank, wurde aber durch Dusky, einem Kumpel der Band würdig vertreten. Sänger Johnny liebt die Fans und die Fans lieben Johnny. Immer wieder brachte er zum Ausdruck, wie dankbar er für ihren Support ist, dass sich die ganze Band (die für den Auftritt auf dem Plage Noire ihre Tour mit Erdling unterbrochen haben) unheimlich freut auf dem Plage Noire zu spielen und zeigte sich mit kleinen Anekdoten, persönlichen Geschichten und sehr viel Fannähe als einer der sympathischsten Frontmänner der Szene. Die Lightshow unterstützte die energiegeladene Show, für die die Bühne leider viel zu klein war. SOULBOUND spielten aber nach dem Motto „Platz ist in der kleinsten Hütte“ und ließen sich von dem Platzmangel nicht beeindrucken. Offen berichtete Johnny, dass er seit 30 Jahren immer wieder mit Depressionen zu kämpfen hat und machte anderen Betroffenen Mut. Herrlich ehrlich berichtete er, dass es gute und weniger gute Therapeuten gibt und dass man einfach den für sich richtigen finden muss und dass es immer einen Weg gibt. Wow. Gänsehaut und Respekt vor so viel Offenheit! Ein starkes Statement gegen Rechts, Ausgrenzung und Hass lieferten SOULBOUND mit dem Song „Fuck You!“.

Soulbound

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Fotos: Birger Treimer

Bevor man wieder von den Ordnern aus dem Salle gekehrt wurde, strömten die meisten von selbst hinaus und einige auch gleich weiter zum Rest des Auftrittes von NITZER EBB im Zelt, die dort als Tagesheadliner des Plage Noire dem Ganzen einen krönenden Abschluss geben sollten.
Im Zelt erwartete mich eine gelungene Show, wie ich sie auch schon von der “Join The Forces”-Tour 2023 mit LIEBKNECHT und FRONT 242 kannte und vielleicht lag es an meinem Standort, aber ich persönlich war mit dem Sound des Auftrittes gerade gegen Ende nicht mehr sonderlich glücklich. Mir bestätigten zwar einige, dass es ihnen auch so ging, aber ich fand es bedauerlich, gab Douglas McCarthy doch wieder alles auf der Bühne. Die Lichtshow war jedenfalls headlinerwürdig und auch an Nebel wurde nicht gespart. Während man bei Zeitgenossen wie THE SISTERS OF MERCY durchaus spekulieren kann, ob sie nicht doch schon lange tot sind (Im Nebel kann man ja bei diesen Bands üblicherweise nur Schemata erkennen), so konnte es bei McCarthy jedenfalls keinen Zweifel geben, wer dort über die Bühne berserkte.
NITZER EBB spielten noch bis ein Uhr nachts, aber danach breitete sich langsam eine Ruhe über dem Weißenhäuser Strand aus, die nur von der Aftershowparty im Cri de la Mouette unterbrochen wurde. Einige reisten bereits nachts ab, ich ebenfalls, andere gingen noch feiern und mancher fiel nach dem langen und warmen Tag auch nur einfach zufrieden und glücklich in sein Hotelbett.

Der Vorverkauf für 2024 ist bereits eröffnet, man darf gespannt sein, was im nächsten Jahr an den schwarzen Strand gespült wird. Wir jedenfalls sind nach einigen Ausgaben dieses wundervollen Festivals längst angefixt und können es kaum erwarten, an diesen mystischen Ort zurückzukehren. Isabelle LeFavre löscht ihre Laterne – vorerst… Das Licht ging aus, wir gingen nach Haus, rabimmel rabummel radoom.

Nitzer Ebb

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Fotos: Birger Treimer
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